24. Juli 2020

Der aktuelle Fall: Stephan Balliet - Amokläufer in Halle

Am 9. Oktober 2019, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, fuhr der 28jährige Stephan Balliet bewaffnet zur Synagoge in Halle an der Saale, um so viele Juden wie möglich zu umzubringen. Jetzt läuft in Magdeburg sein Prozess. Der Artikel befasst sich mit der Frage, was sich aus den Mustern einer solchen Tat ableiten lässt, nach der mentalen Verfassung eines solchen Täters und seiner Zurechnungsfähigkeit.

Caveat: Die Leser erinnern sich bitte daran, dass, dad es sich um eine reale Person handelt, hier niemand diagnostiziert wird. Ich spekuliere anhand der Tatsachen und Aussagen in Kombination mit wissenschaftlichen Erkenntnissen nur, in welche Richtung man denken kann, wenn man es mit eienr solchen Situation zu tun hat.

Lebenslauf

Stephan Balliet wurde 1992 in Eisleben geboren, Abiturjahrgang 2010. Ein unauffälliger Schüler, sagt der Schulleiter, sei er gewesen. Genau so unauffällig liest sich laut Bericht seine Akte seiner Bundeswehrzeit bis 2011. Hier lernte er den Dienst an der Waffe des Sturmgewehrs HK G36 und der Pistole HK P8. Vor Gericht wird er sagen, er hätte den Wehrdienst als anstrengend und als "doof" empfunden, es sei "keine richtige Armee" gewesen. Ein Chemiestudium plus Chemieingenieurswesen schloss sich an, was er nach zwei Semestern laut eigener Aussage aus gesundheitlichen Gründen abbrach.
Nach einer Operation habe er sich verändert, sagt seine Mutter. Stephan Balliet blieb jetzt überwiegend in seinem Zimmer und im Internet. Sein Vater und auch eine Nachbarin wird ihm eine eigenbrötlerische Gesinnung  mit wenig sozialen Umgang und Freunden attestieren. Seiner Mutter verbot er sogar, sein Zimmer zum Saubermachen zu betreten.
Gefragt nach seinen Plänen für sein Leben nach diesem Abbruch gefragt, antwortete er der Richterin: "Hatte ich keine mehr." Da war er 23.

Die nächsten Jahre lebt er in seinem alten Zimmer bei seiner Mutter. Sie und ihr Mann hatten sich getrennt, als er Teenager war. Das Verhältnis zu beiden Elternteilen gibt Balliet als gut an.

Zu den Veränderungen gehört auch eine zunehmende Misogynie. Stephan Balliet äusserte sich wütend über Greta Thunberg, über politisch tätige Frauen, über den Wetterbericht, über Frauen mit Partnern mit nicht weisser Hautfarbe, über das deutsche Redeverbot (Beispiel: Holocaustleugnung stehe unter Strafe) und darüber, dass der weisse Mann nichts mehr zähle. Alles wohl Meinungen aus den Internetforen, in denen er unterwegs war.

2018 bewarb sich Balliet als Zeitsoldat, zog jedoch seine Bewerbung im nächsten Jahr bislang ohne Angabe von Gründen am Tag  der Auswahl der Bewerber zurück.
Schon 2015 hatte er sich eine Waffe über das Darknet besorgt, später wird er sich selbst eine Schusswaffe basteln. Insgesamt wird man bei ihm 45 veschiedene Sprengkörper, Handgranaten und Rohrbomben, finden. In seiner Stimme wird Stolz mitschwingen, wenn er vor Gericht aussagt, es hätte drei Jahre gedauert, um sich so zu bewaffnen, dass er gegen die Millionen Muslime, die das Land seit 2015 "besiedeln", ankommen könne.

Laut eigenen Angaben bekam er einmal über Bitcoin von einem anonymen Spender eine umgerechtet um die 750 Euro Spende, die er in seine Ausrüstung steckte. Gekaufte Patronenhülsen und Geldstücke dienten als Munition. Teils kennzeichnete er sie mit Hakenkreuzen.

Auf seinen Festplatten wird die Polizei Hitlerbilder, Hakenkreuze, das Buch "Mein Kampf", sowie ein Video vom Terroranschlag in Christ Church und Videos mit Hinrichtungendurch den Islamischen Staates finden. Vor Gericht wird Balliet verneinen, ein Nationalsozialist, jedoch "judenkritisch" eingestellt zu sein. Er selbst sehe sich als "sozial unbeholfen" mit leicht autistischen Neigungen. Für beides seien die Juden Schuld, die ihn "aus seinem Leben drängen" würden. Auch würden sich heute Frauen fälschlicherweise für die Karriere, anstatt für Mann und Kind entscheiden, was zu einer weiteren Benachteiligung des Mannes führen würde. Er hätte keine Freundin, keine Freunde, keine Hobbies. Juden kenne er auch nicht, er hätte sich seine Meinung auch so mit Gleichgesinnten gebildet. Zwei wichtige Dinge hätten ihn sehr bestärkt:
  • Die Flüchtlingskrise 2015, die er als "Invasion" bezeichne
  • Der Christ Church-Attentäter Brenton Tarrant, nach dessen Tat er mit seiner eigenen Bewaffnung begonnen habe. Irgendjemand müsse ja etwas gegen die schädlichen Entwicklungen tun.
Seine Entscheidung, am Jom Kippur so viele Juden wie möglich zu töten, zielte auf die Beseitung des Grundübels ab, in dessen Sog er sich geraten sah. Als letztes Ziel gab er in einem Bekennerschreiben vor der Tat an, wollte er durch Polizeikugeln sterben, "wie ein Looser", als dem er sich bezeichente.

Seine Attentate streamte er live über Kamera ins Internet und erreichte laut Protokoll mehrere Zehntausend Zuschauer. Es gab Beifallbekundungen, doch wurde Tat auch verurteilt,  allerdings mit der Begründung, es gäbe nur so wenig Tote. Er selbst bezeichnete sich im Audio seines Streams immer wieder als Versager, zum Beispiel, als die Waffen nicht so funktionierten, wie sie sollten oder nachdem er zwei Unbeteiligte erschossen hatte, anstatt, wie geplant, die Juden in der Synagoge, weil er dort nicht hineingelangen konnte.

Sein erstes Opfer war eine Passantin, die sein Treiben vor der Synagoge - Schüsse und Granaten - angeblich mit den Worten kommentierte, ob der Lärm denn sein müssen, wenn sie gerade vorbeiging. Das Ganze klingt etwas seltsam und ist in den Berichten nicht eindeutig schlüssig. Wer sagt so etwas zu jemanden, der mit einer Knarre auf eine Tür schiesst und Spengkörper wirft? Die natürliche Reaktion wäre, sich schnellstmöglich zu entfernen.

Balliet jedenfalls erklärte, sie zu töten wäre eine Kurzschlusshandlung gewesen angesichts dessen, dass er nicht wie gewollt, in die Synagoge eindringen konnte. Hätte sie nichts gesagt, wäre sie noch am Leben, so seine Aussage. Gleichzeitig meinte er, wenn er nicht geschossen hätte, wäre er ausgelacht worden. Er bezieht sich damit wohl auf die Zuschauer im Livestream. Er hätte damit bewiesen, dass schon ein dummer Kommentar gereicht hätte, um ihn zu stoppen.

Auch seine Schüsse auf die Menschen im Dönerladen sind laut seinen Aussagen als ungeplante "Ersatzhandlungen" zu sehen. Er sieht auf der Fahrt einen Dönerladen, assoziiert "Döner, aha, Moslems!" und hält drauf zu. Weil aber auch dort das Töten seiner anvisierten Zielgruppe misslingt, erschiesst er einen zufällig anwesenden Kunden.

Am Anfang hören wir noch Sätze mit Selbststilisierung wie:

"Als junger, fitter, weißer Mann mit blonden Haaren und blauen Augen und ohne Tattoos, Piercings und anderem heruntergekommenen Scheiß (außer ein Möchtegern-Japaner zu sein) sehe ich schon aus wie ein Terrorist"


Was haben wir hier?

Etliche Kommentare benutzen die Redewendung, dass hier etwas Neues passiert ist. Das empfinde ich nicht so ganz richtig. Denn diese Art von Attentat besitzt bestimmte Muster, die inzwischen (leider) nicht mehr neu sind:
  • junger männlicher Einzelgänger ohne gesellschaftliche Eingliederung, Anerkennung oder Wertschätzung
  • sozialer Rückzug
  • keine Perspektive, keine Motivation
  • Externalisierung von Verantwortung: "Die anderen sind Schuld" und "müssen zur Verantwortung gezogen werden"
  • die Einstellung: die, die für Recht und Ordnung zuständig sein sollten, schauen zu, deshalb muss der Einzelne jetzt "reinen Tisch" machen"
  • Verfestigung dieser Haltung und Konkretisierung eines bedrohenden Feindbildes durch den Kontakt zu ähnlich Denkenden (im Internet)
  • Selbstimage als Kämpfer im Dienst für eine höhere Sache, nicht selten niedergelegt in einem Bekenntnisschreiben, inzwischen oft "Manifest" genannt

Radikalisierung war vor den Zeiten des Internets aufwendiger. Der freie Zugang zu allen möglichen Meinungsspektren ist heute sehr einfach und Gleichgesinnte finden sich auf dem ganzen Erdball zu wahrscheinlich fast jeder Meinung oder Ideologie. Zu erfahren, dass andere meine Ansichten teilen, bestärken oder weiterführen, gibt einem ein gutes Gefühl. Jeder zieht daraus seine Wertschätzung.

Ursache

Wir alle kommen früh auf die Welt. Das ist unserer Biologie geschuldet, genauer gesagt, ist unser Kopf zum Körper verhältnismässig ziemlich gross. Kämen wir später auf die Welt, würden also vor der Geburt noch weiter wachsen, würde die Gebärende das nicht überleben. Deshalb also "früh".
Das bedeutet aber auch, dass wir so ziemlich hilflos sind. Wir können nicht viel sehen, schlafen viel und mit der Fortbewegung schaut es auch ziemlich düster aus. Kurz gesagt: Wir sind auf ein soziales, liebesvolles und fürsorgendes Gegenüber angewiesen oder wir gehen körperlich und / oder psychisch drauf.

Ideologien füllen genau jene Lücke.

Sie vermitteln auf ihre Weise die von Kleinkind an eingepflanzte überlebenswichtige Botschaft: "Du gehörst zu uns, du bist willkommen, du bist hier richtig. Wir kümmern uns."
Es gibt in den einschlägigen Ecken des Internets Marketingvideos des islamischen Staates, die genau diese Botschaft in anschaulichen Bildern aussenden.

Je weniger jemand in den ersten drei Jahren so ein emotionales Aufgehobensein erlebt hat, um so stärker ist der Sog solcher communities. Wo sonst nur Einsamkeit, Gleichgültigkeit und Misserfolg erfahren wird, ist man hier der Hero, der es drauf hat!


Letzteres erklärt auch den Bezug zu martialischen Utensilien. Waffen wirken generell als Realsymbole von Macht. Ein Kampfanzug signalisiert: Ich bin kein durchgeknallter Idiot, sondern ich bin ein Profi und im Einsatz für etwas. Uniformen verleihen ihren Trägern Bedeutung, indem sie sie aus der Masse herausheben und zudem ihren Rang und damit Wirkungsgrad ohne Abstriche demonstrieren: "Ich bin wer!"

Doch alles nur aufmangelnde Anerkennung durch die Umwelt und Radikalisierung durch das Medium Internet alleine zu erklären, ist nicht genug. Hinzu kommen bestimmte Persönlichkeitsfaktoren. Nehmen wir das empirisch gut abgesicherte Five-Factor-Persönlichkeitsmodell, so wäre bei Balliet wohl zu erwarten:

1. Offenheit für neue Erfahrungen: geringe Ausprägung

Dafür spricht seine Einstellung gegenüber Fremden, gegenüber Dingen, die nicht so verlaufen wie beworben(Wetterbericht) oder nicht die eigenen Erwartungen erfüllen (Frauen, Karriere etc.)

2. Gewissenhaftigkeit: geringe Ausprägung

Dieser Persönlichketiszug geht einher mit Durchhaltevermögen, Umsicht, Effizienz, Genauigkeit, Vorausdenken etc.. Stephan Balliets Vorgehen spricht eine andere Sprache. Man wird eher von geringer Planung und Misslingen sprechen, sowohl beim Bau der Waffen, als auch beim Planen des Vorgehens (Begutachtung des Geländes vor Ort, strategisches Denken etc.). Er beschränkte sich darauf, anzunehmen, dass die Synagoge an Jom Kippur voll sei. Welche tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort seien (gebäudeplan, Sicherheitsvorkehrungen usw.) interessierten ihn nicht.

3. Neurotizismus: hohe Ausprägung

Zwei Tote als "Ersatzhandlung", Selbstabwertung, Abwertung anderer Gruppen zeugen von emotionaler Labilität, geringer emotionaler Selbstsicherheit und Stabilität. Dagegen zeigt sich eine erhöhte Reizbarkeit und geringe Stressresistenz gepaart mit geingen coping-Fähigkeiten. Seine Bewerbung am Stichtag zurückzuziehen ohne einen Plan B zu verfolgen, lässt auf eine Impulshandlung schliessen.

4. Extraversion / Geselligkeit: geringe Ausprägung

Hier finden wir den sozialer Rückzug, die Aussagen verschiedener Leute, darunter auch er selbst, keine Freunde zu haben, keine Hobbies zu verfolgen. Auch Freundinnen fehlen.

Schlussfolgerung:

Biografische Erfahrungen und Persönlichkeit gehen hier eine Melange ein, als deren Ergebnis Machtlosigkeit und Versagen steht. Die Betroffenen fühlen sich weniger als Mensch, sondern als Prügelknabe einer sie missachtenden Umgebung, die ihnen Unwohl will. Die Schlussfolgerung lautet: Wenn ich schon nicht geliebt werde, so will ich wenigstens gefürchtet werden. Angst vor jemand zu haben macht es nämlich unmöglich, diesen jemand zu ignorieren.

Ist das irre oder wahnhaft?

Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode, lässt Shakespeare in Hamlet seiner Figur sagen.
Menschen, selbst Psychiater, sind zuweilen schnell bei dern Hand mit Begriffen wie "Wahnvorstellung", "paranoid" oder "psychotische Störung"(siehe der Fall Anders Behring Breivik). Doch sind Verworrenheit, Verstiegenheit, Fanatismus, nationalsozialistisches Gedankengut, Rassismus, Sexismus auch Äusserungen eines klinisch gesunden Geistes.

Es mag dies verstörend auf manche wirken, was einem nicht von der Verantwortung entbindet, Menschen, mit schädlichen Weltbild nicht vorschnell als geistig krank abzuurteilen. Persönliche Motive oder das eigene nicht-nachvollziehen-können sind bei der Beurteilung so weit wie möglich aussen vor zu lassen.

Meine Antwort wäre:

Stephan Balliet war sich seiner Taten bewusst und hat sich dafür entschieden. Das ideologische Weltbild stiess auf eine dafür empfängliche Persönlichkeitsstruktur und hat seine Erfahrungswelt des Versagens zu kompensieren geholfen. Entsprechend bereitwillig hat er es angenommen. Mit den katastrophalen Folgen. Er wird in derselben Logik nach auch in der Gerichtsverhandlung eine Haltung einnehmen, die ihm selbst Bedeutung nach seinen Kategorien vermittelt. Auch das ist eine Folge des geringen Scores beim Persönlichkeitsmerkmal Gewissenhaftigkeit.

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