15. Juni 2014

Jugendliche und Pornos = Erwachsene und Amok

Frage von einem Mädchen
Pornographie ist ein Stichwort, das alle möglichen Emotionen produziert. In Verbindung mit "Pornographie und Jugendliche" jedoch produziert es meist nur eine Rektion: regelmäßige geistige Amokläufe von Erwachsenen.

Zeit, mit ein paar Fakten rüberzukommen.




Tja, wie war das damals?

Als wir Kinder waren, erlebten viele von uns eine ganz bestimmte Situation:
irgend jemand aus der Klasse, am Schulhof, in der Clique etc. hatte etwas dabei: Ein Heft. Mit vielen Bildern.

Nein, nicht von der kleinen Hexe oder eine Illustration von Blythons "Fünf Freunde" oder irgendwelchen Cowboys und Indianern, sondern mit anatomisch detailgetreuen Abbildungen von Frauen und Männern, die gerade in allen möglichen Positionen Sex hatten: ein Pornoheft.

Die Reaktionen damals wie heute sind die gleichen wie bei allen Zehn- bis Zwölfjährigen: 

die einen sind fasziniert, die anderen kichern, die nächsten ekeln sich ...

Auch was folgte, war und ist charakteristisch: Die Erwachsenen liefen Amok

Sofort wurde zum Halali auf irgend einen Schuldigen geblasen (he he, ich habe "geblasen" geschrieben) und mit moralischer Empörung triefender Stimme musste erörtert werden, welches bereits verdorbene Kind als Urheber mit seinem schlechten Einfluss auch all die anderen, bevorzugsweise den eigenen, zartbeseiteten unschuldigen Sprößling, in den moralischen Abgrund reißen würde. Es galt seine Nachkommen ja von solchen verdorbenen Äpfeln im Korb schützen.

Heute, wo sexuelle Handlungen überall verfügbar sind, ist die soziale Angst vor der Verbindung Jugendliche und Sex in damals noch ungeahnte Höhen geklettert.
Thesen, in denen Jugendliche abstumpfen, zur Liebe nicht mehr fähig sind und von den bösen Medien verführt, nur mehr gefühlskalten, abstoßenden und beliebigen Sex praktizieren, dabei keinerlei Werte mehr kennen und alles eh nur mehr ganz furchtbar sein wird, sind immer wieder gut für Schlagzeilen und moralische Amokläufe von Orgienphantasien getriebenen Wutbürger.

Die Geschichte ist alt:

Beispiel aus der alten Geschichte

Im 18. Jahrhundert herrschte bei den Erwachsenen Panik vor der Onanie und es gab ganze Kampagnen gegen deren Folgen, in denen man der heranwachsenden Generation einredete, dass das sehr gefährlich sei:
Man könne davon blind werden, es käme zu Rückenmarksschwund und noch zu ganz anderen unschönen Dingen. Und ganz am Ende könne man deswegen auch zur Hölle fahren.

Beispiel aus der jungen Geschichte

1969 benahmen sich deutsche Eltern wie ein Hühnerhaufen, unter dem der Habicht gefahren war; nur weil im damaligen Sexualkundeatlas für die Schulen ein Penis abgebildet war (um die Gefahren der Syphilis zu erläutern).
Die Katholische Elternschaft Deutschland jedenfalls erregte sich (he he, schon wieder so eine Formulierung! :-) ), weil sexuelle Vorgänge dort mit der gleichen Selbstverständlichkeit geschildert werden, als ob es ums "Atmen und das Naseputzen" ginge. Schlägt man, durch solche Schreie neugierig gemacht, den Atlas auf, dann findet man dort solche Sätze wie:
"Wenn der Mann seiner Partnerin vollen Genuss verschaffen will, muss er dazu fähig sein, durch Liebkosungen ihre Begierde zu erwecken und allmählich bis zum Verlangen nach der Gliedeinführung zu steigern."

Also wenn es je einen Beweis dafür geben sollte, dass die Deutschen geistig nichts weiter sind, als ein Bürokratenvolk ohne echte Seele, da wäre er! Noch verwaltungstechnischer über Sex zu reden, ist schwer vorstellbar.

Wie sieht es heute aus?

Schaut man auf das, was wirklich wissenschaftlich feststeht, so ist das Problem mit den Pornos eher in den Phantasien der Erwachsenen zu finden.

2011 veröffentlichten Silja Matthiesen und Gunter Schmidt in "Zeitschrift für Sexualforschung" das Ergebnis einer Studie, die auch das wiedergab, was bereits die restlichen Studien zeigten:
Jugendliche komsumieren Pornos, Jungs bedeutend mehr als Mädchen. Bei den 13jährige Jungen hatten 50 Prozent Pornoerfahrung, bei Mädchen waren es 15 Prozent. Bei 16jährige Jungen, da waren es 90 Prozent, bei Mädchen 60 Prozent. Im Schnitt gerechnet sind es also um die zwei Drittel, die Erfahrungen mit Pornos machen.

Man sieht, unsere Jugendlichen sind hier relativ entspannt bei dem Thema

Jetzt wäre ein Vergleich zum erwachsenen Pornokonsum interessant. Glaubt man jedenfalls statistica, so sind die Deutschen mit Pornogucken jedenfalls ganz vorn dabei.

Eltern glauben, die Jugendlichen stürzen ab

Bei Jugendliche lautet damals wie heute die elterliche Befürchtung: Wenn die Dinge so offen gezeigt werden, dann ließe das den Wunsch aufkommen, die gesehenen Dinge auch auszuprobieren.

Ok, diese Befürchung lässt sich empirisch überprüfen. Die Ergebnisse sind auch bekannt.
Untersuchungen sprechen von verminderter Lebenszufriedenheit, särkerer Neigung zur Aggression und höherer Risikobereitschaft -  IN SEHR GERINGEN AUSMASSE und VOR ALLEM BEI INTENSIVER  NUTZUNG VON GEWALTPORNOS.


Allerdings: Wer zu Gewaltpornos neigt - Hand aufs Herz, wie groß ist davon wirklich der Anteil an den Pornofilmen? Wie viele hat man davon selber denn gesehen bei der eigenen Pornonutzung? 
Wer wirklich intensiv Gewaltpornos guckt,  bei dem liegt wahrscheinlich wirklich ein Problem vor. Aber das ist nicht das Ansehen von Gewaltpornos!

Gewaltpornos sind mehr in der Phantasie der Erwachsenen gehypt als bei Jugendlichen

Die Universität Malmö fasst in ihrer Studie, veröffentlicht im Journal of Sex Research, zusammen: Generell gilt für Jugendliche, Gewaltpornos besitzen keine erotische Anziehung. Um sich sexuell zu erregen, benutzen sie (Jungs) "normalen" Sexvorlagen.

Genau wie mit dem Online-Angebot. Krasse Darstellungen dienen eher als spekuläres Ereignis oder als Mutprobe. Meist wird es als abartig, gelegentlich als verstörend wahrgenommen, aber keineswegs als Vorbild, das man mal ausprobieren will. Zur sexuellen Erregung nutzen die Jungendliche damals wie heute eher die Phantasie. Masturbierende Jungs denken weniger an Pornostars und deren verstöhnten Verrenkungen, sondern an die weiblichen Wesen aus ihrem Lebensumfeld.

Eine ziemlich normale, unaufgeregte Haltung. Also alles kein Grund für Amokläufe.
Der ausradierte Filmtitel ist mir unbekannt gewesen und japanisch

Sex immer früher? - wieder so ein Trugschluss!

Laut Studie zur Jugendsexualität der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung trifft es zwar zu, dass Jugendliche unter 17 ihre ersten sexuellen Erfahrungen früher machen als noch vor 30 Jahren, aber schon Ende der Sechziger erkannt man, dass sich die damals 16- und 17-Jährigen sexuell so verhielten wie die 19- und 20-Jährigen zehn Jahre zuvor. Damals hieß das "sexuelle Revolution" und es drohte wieder einmal der Untergang des Abendlandes. Heute sehen wir darin nichts Neues mehr. Nicht mal ein Revolutiönchen.

Es findet sich keine Bestätigung, dass immer mehr Jugendliche immer früher sexuell aktiv werden. Die sexuelle Aktivität ist seit Mitte der neunziger Jahre fast unverändert und sogar rückläufig. Der Anteil der 14-jährigen Mädchen mit Sexerfahrung ist im Vergleich zur letzten Erhebung im Jahr 2005 von zwölf auf sieben Prozent gesunken, bei den Jungen von zehn auf vier. Bei den 17-jährigen Mädchen sank der Anteil von 73 auf 66 Prozent, bei den Jungen blieb er mit 65 Prozent nahezu gleich.

Einen wichtigen Unterschied zu früher gibt es aber:

Jugendliche sind heute weitaus besser aufgeklärt. Niemand trifft mehr völlig unvorbereitet auf die Sexualität.
Im Gegensatz zur veralteten Meinung ist nämlich kein Kind ein asexuelles Wesen, bei dem die Biologie auf einmal einen Schalter umlegt und dann das Interesse sintflutartig einsetzt. Menschen - also auch Kinder - sind von Anfang an sexuelle Wesen und bleiben es. Kinder nennen es nicht Sexualität, aber sie erforschen sich und tun das, was gut tut.

Sexuelle Orientierung oder Vorlieben für Praktiken können nicht anerzogen werden und einem nicht übergestülpt werden. Sie bilden sich auf natürliche Weise und es fängt bereits an, lange bevor man sich vor einem Bildschirm setzt. Auch das müssen noch manche Erwachsene von heute lernen.
Aufklärung beginnt deshalb schon im Vorschulalter. Kinder interessieren sich, wie das Baby in Mamas Bauch kommt. Kinder erforschen auch ihre Genitalien. Kinden spielen Doktor. Deshalb ist Sexualität ein Thema und soll es auch sein.

Bevor jetzt wieder Erwachsenenphantasien von dildospielenden Kindergärtnerinnen nach der Reise nach Jerusalem entstehen: Sexuelle Aufklärung bedeutet in diesem Alter in erster Linie, unverkrampft Fragen beantworten zu können, anstatt sich über Moral und deren Etikettierungen Gedanken zu machen.

Pornos zu verbieten, ist sinnlos. 

Es gibt Leute, die machen ein mögliches Verbot zu einer Weltanschauung. Würde man es durchsetzen, dann wäre es wahrscheinlich der gleiche Rohrkrepierer wie Ursula von der Leyens Sperrung von kinderpornographischen Internetseiten. (Den Zugang versperren, anstatt die Seiten löschen zu lassen, als ernsthaftes Mittel gegen Kinderpornographie darzustellen, war damals schon für alle, die etwas vom heutigen digitalen Zeitalter verstanden haben, eher ein Fall für Lachkrämpfe als für etwas anderes).

Sexualpädagogik bedeutet auch, dass Eltern ihre Zeit mit ihren Kindern nutzen sollten, ein Vertrauensverhältnis zu pflegen, anstatt ihre Zeit auf Veranstaltungen gegen Sexkonsum und Schutz der unschuldigen Sprößlinge gegen die böse Welt zu vergeuden.

Mädchen interessieren sich nun mal für ihre Regelblutung, Jungs für ihren Penis. Und jeder will über Küssen, Verliebsheitsgefühle und Sex etwas wissen. Kinder wollen auch wissen, warum die Frau auf dem Cover keine Kleider anhat oder warum sich die zwei Männer da vorne küssen.
Das alles gehört zu der Welt, in der sie irgendwann ohne uns leben.Wir sind unseren Kindern und Jugendlichen deshalb Antworten schuldig, die sie ermutigen. Unser Nachwuchs braucht keine Eltern, die wie aufgescheuchte Hühen herumflattern und die Welt in moralischen Privathierarchien einteilen.

Fazit:

@panthermedia.net/Ivelin Radkoff
Was ich als Paartherapeut sagen würde? Auf Schlagzeilenniveau für eine Zeitung mit den vier Buchstaben wäre das:

Pornographie ist heute Teil der Pupertät. Partnerschaften und Sex, gleich welcher sexuellen Orientierung, sind es ebenfalls. Du kannst dich darüber aufregen, aber du wirst damit leben müssen. Punkt. Also leb damit und regulier deinen Blutdruck wieder nach unten.

Ehrlich gesagt, ich mache mir mehr Sorgen, um die abgestumpfen Erwachsenen, die Menschen als Kostenfaktoren oder Humankapital bezeichnen und anhand dieser Einstellung über die finanzielle Basis von Mitarbeitern entscheiden. Das aber nur nebenbei.

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