Realität und Geschichte - eine fantasievolle Verknüpfung in: Tintenherz, von Cornelia Funke |
Früher saßen Menschen ums Lagerfeuer und erzählten Geschichten. Heute sitzen wir vor dem Fernseher und schauen Jahresrückblicke. Wenn Sie jemand fragt, wie Sie denn zu dem gekommen sind, was Sie tun / arbeiten / wie Sie leben - was antworten Sie? Nun, Sie erzählen .... sie erzählen eine Geschichte. Ihre Geschichte. Und wenn Sie jemand fragt, warum Sie das oder jenes tun - was machen sie? Sie erzählen ... über Hintergründe, Ursachen, über ihre Motivation. "Warum wollen Sie hier bei uns arbeiten?", fragt Sie der Personaler ... und Sie erzählen ... .
Wir erzählen ständig Geschichten und Geschichten erzählen eine Menge über uns. Und über andere. Und andere erzählen über uns Geschichten. Und unabhängig, ob wir die Geschichten für wahr halten oder nicht, die Geschichten beeinflussen unser Leben. Wäre es nicht so, hätten Gerüchte auch keine Wirkung.
Geschichten sind die Art und Weise, wie wir unseren Platz definieren - in einem Team, in einer Familie, in der Firma, in der Gesellschaft und ihrer Kultur. Geschichten, die wir über uns erzählen, sagen etwas über unsere Alltagsphilosophie, unsere Werte, Vorlieben, Abneigungen ...
Geschichten bauen Realität auf. In Wirklichkeit besteht die Wirklichkeit aus nichts anderem als Geschichten. In ihrem Roman "Tintenherz" hat Cornelia Funke diese Wahrheit phantasievoll aufgegriffen.
Geschichten sagen aber vor allem immer eines: Sie sagen uns selbst, wie wir uns selbst wahrnehmen.
Die Familie ist der engste soziale Raum, in dem die Geschichten der einzelnen erzählt werden und im Austausch stehen. Nirgenwo sonst gestalten Geschichten so schnell Kultur wie hier. Erzähler und Zuhörer sind hier so nahe wie möglich beieinander.
Geschichten können übrigens auch nonverbalerzählt werden. Die Geschichte "ich bin hier eh das schwarze Schaf in der Familie" braucht nicht viele Vokabeln, um sich selbst und gegenüber anderen immer wieder erzählt zu werden.
In der systemischen Familientherapie nennen wir so etwas "Familienparadigma" oder "Familiencredo". Jede Familie, jedes Paar, jedes Gemeinwesen braucht so etwas, um die Realität gemeinsam zu interpretieren. Sonst bricht die Gemeinschaft auseinander.
Ein Paradigma betimmt, welche Aspekte der Realität beachtet und welche ausgeschlossen werden. Bestimmte Interpretationen sind dabei erlaubt, andere werden negiert, manchmals auch drakonisch bestraft.
In einer Ordensgemeinschaft galt zum Beispiel das Paradigma: "Wir verurteilen nicht". Sie beriefen sich auf das Neue Testament: "Richtet nicht, damit nicht auch ihr gerichtet werdet". Der Haken war: Sie hielten das "Wir verurteilen nicht" auch eisern durch, als viele Ordensangehörige mit ihren Genitalien bei Kindern Dinge taten, die nicht in Ordnung waren. Die Staatsanwaltschaft sah das mit dem "nicht verurteilen" etwas anders und die Ordensleitung wähnte sich plötzlich in einem Kampf Gut gegen Böse verwickelt. Der Böse war übrigens in ihren Augen nicht ihre Ordensbrüder, die sich an Kindern vergriffen hatten. Der Böse war derjenige, der das Ganze zur Anzeige gebracht hatte.
Die Geschichte "richtet nicht" gab in diesem Orden also vor, wie man die Dinge zu sehen hatte. Andere Interpretationen wurden nicht toleriert. Natürlich gab es die auch und entsprechen gab es Streit. Ziemlich bissigen mit Moralis versetzen Streit. Meistens der Augenblick, wo ich gerufen werde.
Für Therpeuten oder Meditoren ist es interessant, auf die Geschichten zu blicken, die von den Beteiligten erzählt werden. Sie enthalten die unausgesprochenen und ausgesprochenen Überzeugungen, wie etwas zu sein oder nicht zu sein hat. Und sie zeigen die vorläufigen Grenzen der Beteiligten. Blöd nur, wenn wie bei dem Beispiel des Ordens, die Lösungen jenseits dieser Grenzen liegen.
Es hilft letztlich nur ein Weg: sich ernsthaft und ehrlich zu fragen:
Welchen Geschichten erlaubst du, dein/euer Leben zu regieren? Willst du, dass diese, genau diese Geschichten dein/euer Leben regieren?Wenn die Antwort "nein" lautet, dann können wir Therapeuten oder Mediatoren helfen. Aus der Kunst und Literatur wissen wir, dass man verschiedene Geschichten zum selben Sachverhalt erzählen kann. Und auch diese zeigen Wirkung.
In dem alten Filmschinken "Ben Hur" erklärt der Römer Messalla dem Titelhelden, wie man eine schädliche Idee bekämpft: "Mit einer anderen Idee!"
Liest sich leicht, ist aber nicht einfach umzusetzen. Zuweilen braucht man Hilfestellung. Dazu bin ich da. Das habe ich gelernt, das kann ich, da habe ich Erfahrung. Und ich weiß: es funktioniert. Und es ist nicht einfach. Aber es funktoniert.
Ein Personaler hat einmal nach einem Vortrag kritisiert, mit der Methode würde man sich nur etwas einreden, anstatt das Problem wirklich zu lösen. Was er dabei übersehen hatte war, was Albert Einstein schon wusste:
wir können die Probleme nicht mit den gleichen Denken lösen, mit den sie entstanden sindVoraussetzung für die gute Lösung, die von den Beteiligten getragen werden kann, ist ein echter neuer Horizont mit einer neuen Perspektive. Anders ausgedrückt: Eine neue Geschichte, ein neues Paradigma im eigenen Leben. Wer das als "sich etas einreden" bezeichnet, der wird immer nur an Symptomen herumdoktern und dabei sich "einreden", er löse Probleme. Tja, was soll man sagen?
Ein gutes 2012 allen da draussen!
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