25. August 2022

Das Phänomen der shifting baselines und die Gewalt von heute

Gewalt und Hass - lang vorbereitet
Gewalt und Hass -
lange vorbereitet
Von der Ukraine bis zum Jemen zwingen gewaltätig ausgetragene Konflikte die Menschen in extreme Armut, Knechtschaft oder Flucht. Laut Global conflict Tracker gibt es weltweit 27 Konfliktherde und laut UN sind Konflikte und Gewalt auf den Vormarsch. Und das ohne Pandemie.

Zugleich zeigt eine Umfrage des Magazins "Kommunal" im Auftrag des ARD-Politmagazins "report München" bei Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen die zunehmende Gewaltbereitschaft in Deutschland während der Pandemie.

Solche Phänomene kommen nicht von ungefähr, sie beruhen auf einen langfristigen psychologischen Mechanismus, in der Fachwelt als "shifting baselines" bekannt. Anlass genung, einmal tiefer über uns nachzudenken.

Ein System von zugeschriebenen Minderwertigkeiten

Es ist kein gesellschaftlicher Aufruhr, es ist eine Art mentale Pandemie. Es ist keine Revolution, es ist ein Gasangriff: Eine langsame stetige Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas.

 

Die Taten

Hasstaten haben in Deutschland inzwischen fast schon eine Geschichte, der Mord an Walter Lübcke, die Attentate von Halle und Hanau, der Autoangriff in Trier, Messerangriffe in Innenstädten ... Die Gewalt hat einen Charakter angenommen. So scheint sich ein System mit mehreren Verbindungen zu etablieren:

  • Einstellungsmustern in der Bevölkerung zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
  • autoritären Nationalpositionen der systemablehnenden Milieus (Reichsbürger ...)
  • Rechtsextreme und Neonazis
  • einzelne Vernichtungstäter
 

Die psychologische Legitimierung

Zwischen diesen Knotenpunkten gibt es verbindende tragfähige Legitimierungen, woraum es rechtens ist, so zu sein, wie man ist, und das zu tun, was man tut.

Diese Legitimierungen beruhen in der Regel auf zwei Säulen:

  1. eine Ideologie der Ungleichwertigkeit: Menschen sind je nachdem weniger Wert, je nachdem welcher Gruppe sie angehören. Je nach Zeit, "Mode" und Sichtweise sind die Minderwertigen dann Juden, Muslime, Migranten, Flüchtlinge, Homosexuelle, Transgender, Klimaaktivisten, Politiker, Virologen usw.
  2. Akzeptanz von Gewalt: Gewalt bedeutet bei diesem künstlich erzeugten Feindbildern ein rechtmäßiges Mittel zum Schutz der eigenen Gruppe, denn diese sei als eine bedrohte Spezies gegenüber Anderen ins Hintertreffen gelangt. Gewalt ist daher als berechtigter Widerstand und eine Art Notwehr.

 

Das Ergebnis: die weitere Abwertung anderer

Diskriminierung verbaler Natur wie "Kopftuchmädchen" öffneten früher schon die Tür zu derben Übergriffen. Als dann die Flüchtlingskrise wegfiel, waren es Wörter wie "Schlafschaf", linksgrün versifft", "Systemling", die die Abwertung von Andersdenkenden weiter verfolgten. Bis hin zum Tabubruch als Geschäftsmodell von populistischen Parteiungen ("Fliegenschiss der Geschichte") und anderen Anheizern ("Lügenpresse halt die Fresse!").

Mord- oder Vergewaltigungswünsche  "gehören inzwischen wohl als normale Mittel" dieser Milieus genau so dazu, wie rassistische Beleidigungen gegenüber Leuten mit unterschiedlicher Hautfarbe oder anderen Aussehen.

 

Was menschlich abläuft 

Die Sozialpsychologie spricht von shifting baselines. Gemeint ist, dass sich die Kategorien, anhand derer wir Dinge einschätzen, in uns unmerklich verschieben. Hier ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich:

Früher sahen die Leute in einem Mann mit langen Haaren das Symbol für den Untergang des Abendlandes, und dass Frauen auch Hosen trugen, galt bestenfalls als unangemessen. Im berühmten Interview durch Günter Gaus sagte Hannah Arendt, es zieme sich für eine Frau nicht, Befehle zu erteilen (sie machte allerdings klar, dass das nur ihre persönliche Meinung sei und sie nicht wisse, ob sie richtig liege).

 

All diese Aussagen hängen an gewissen Vorstellungen (hier eben bestimmte Frauen- und Männerbilder), wie etwas zu sein hat. Sie bilden die baselines. Heutzutage tragen Frauen natürlich Hosen, geben anderen Befehle und Haarlängen unterliegen keiner Geschlechteridentität. Die baselines haben sich verschoben. Dass sie es tun ist nur ein Ausdruck der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsfähigkeit. Natürwissenschaftlich ausgedrückt ist das Evolution. Wer sich nicht weiterentwickelt, wird nicht überleben.

Das bedeutet aber auch, dass die Entwicklung natürlicherweise keinem inneren Ziel dient und die baselines können sich nach allen möglichen Seiten verschieben. Irgendwann landet man dann an einem Punkt und wundet sich verwundert, wie es so weit kommen konnte.
Diese Eigenschaft, sich zu verändern ohne groß darüber sinieren zu müssen, hilft dem Überleben. Es kann einem aber auch zu einem Menschen machen, der man nie sein wollte.

 

Das selbe gilt für Gesellschaften.

Während Individuen durchaus entscheiden können, welche Art Mensch sie sein wollen, also über einen Steuerungsmechanismus verfügen, ist das bei Gesellschaften nicht der Fall. Denn in einer Gesellscht erlebt der Einzelne erst einmal einen Kontrollverlust: Er hat nicht so viel mitzubestimmen, wie er / sie es bei der eigenen Person kann.

Demokratien sind ein Angebot, diesen Verlust kontrollierbar zu machen. Deshalb gibt es Gewaltenteilung, deshalb kann man Leute wählen oder abwählen etc. Der Preis dafür: Langsamkeit. Wenn ein Wahlergebnis für einen persönlich unschön ausging, muss man bis zur nächsten Wahl eben warten. Das bedeutet, dass es wesentlich mehr Frustrationstoleranz braucht angesicht einem Gegensatz zwischen persönlicher Freiheit und den langsamen Mühlen der politischen Sphäre.

 

Gewalt und Abwertung als Ausweg

In diesem erlebten Gegensatz erscheint Aggression als eine beschleunigte Lösung: "Jetzt muß man aber mal hart durchgreifen!" Da es aber negativ besetzt ist, Menschen Gewalt anzutun, ist es notwendig, sich davon zu überzeugen, dass sie trotzdem gerechtfertigt ist. Alternative: Der Andere wird als nicht vollwertiger Mensch auf Augenhöhe mit einem selbst abgewertet: "Die faulen Griechen, die sollen erst mal arbeiten! Die wollen doch nur unsere Euros!" Und damit schliesst sich der Teufelskreis.

 
Die Richtung, in der die shifting baseline geglitten ist, nimmt weiter Fahrt auf. Äusserliche Bedingungen, z.B. Anzahl von Flüchtlinge, Inflation, Verlust von Kaufkraft ... wirken dabei wie ein gedrücktes Gaspedal. Auch technische Beschleuniger, wie die Vernetzungsmöglichkeiten des Internets, haben ihren Anteil daran. Genau in dieser Situtation befinden wir uns gerade. Und es sieht nicht so aus, als würde sich bald etwas ändern.


Quellen:

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