30. Dezember 2021

Wenn Frauen zu Täterinnen werden - das Urteil im Falle Ghislaine Maxwell

Von Ghislaine Maxwell -
I. Maxwell, CC BY-SA 4.0,
https://commons.wikimedia.org/
w/index.php?curid=94071617

 Die Jury tagte volle fünf Tage - länger als erwartet, bis sie sich einigen konnte. Dann das Urteil:

Ghislaine Maxwell ist schuldig in fünf von sechs Anklagepunkten, der schwerste Vorwurf: "Menschenhandel mit Minderjährigen zu Missbrauchszwecken".

Dass Frauen auch Täterinnen sein können, wissen wir intellektuell, in der Praxis jedoch wird Täterschaft eher den Männern zugeordnet. Zeit, sich der Frage zu widmen: Was sagt die Psychologie? Und: Mit was haben wir es im Falle der Täterin Ghislaine Maxwell zu tun?

 

Zuerst ein paar historische Daten um Ghislaine

Geboren 25.12.1961 in Frankreich, der Vater besitzt mehrere Zeitungen. Dort fand sie auch ihren ersten Arbeitsplatz, an der New York Daily News, die ihr Vater gekauft hatte. Im selben Jahr 1991 verunglückte er tödlich. Ghislaine selbst war damals der Überzeugung, ihr Vater sei ermordet worden und im Gefolge dieses Unglücks verlegte sie ihren Lebensmittelpunkt nach New York, wo sie für eine  Madison Avenue Real Estate Company tätig war.
Kurz nach dem Tod ihres Vater ermittelte jedoch die Polizei wegen Betrugs: Ihr Vater oder sonst wer aus der Familie soll angeblich 770 000 Millionen Dollar Pensionsgelder veruntreut haben. Zwei ihrer Brüder wurden verhaftet, 1996 erfolgte der Freispruch.

Ghislane gründete 2012 das Terra-Mar-Projekt zur Rettung der Meere, sie selbst gab an lizensierter Helikopterpilot und ein zertifizierter MT (Medical Technologist ) zu sein und einen U-Boot-Führerschein zu besitzen.

Kontakt mit Jeffrey Epstein

Irgendwann in den 90er Jahren traf sie Jeffrey Epstein, der am 6. Juli 2019 wegen Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen verhaftet wurde. Es war nicht seine erste Anschuldigung. Eine Ermittlung wegen sexueller Gewalt an Minderjährigen 2005 endete mit einer aussergerichtlichen Einigung, die ihm nach Schuldeingeständnis der erzwungenen Prostitution statt lebenslang Gefängnis eine 18monatige Haftstrafe mit täglich 12 Stunden Freigang einbrachte. Nach 13 Monaten wurde er wegen guter Führung entlassen.

Doch auch das war nicht der erste Fall. Angeblich bereits 1996 soll er und Ghislaine zwei Teenager vergewaltigt haben. Die Anzeige der Opfer brachte keinen Erfolgt, genau so wie die Anzeige der Schauspielerin Alivia Arden wegen sexueller Belästigung ein Jahr später.

Dass Epstein also eine Historie mit Anschuldigungen im sexuellen Straftatbestand aufweisen konnte, ist unbestritten. Der letzte Prozess nun brachte ihn ins Gefängnis, wo er, so die offizielle Aussage, durch Suizid seinem Leben ein Ende setzte.

Ghislaine Maxwell und ihre Rolle bei den Verbrechen

Die Frage ist, welche Rolle Ghislaine in all dem spielte. Eine Frage, die das Gericht am Ende dieses Jahres entschieden hatte: Ghislaine ist schuldig des Menschenhandels. Sie soll ihm die minderjährigen Mädchen „beschafft“ haben, sie mit Androhung körperlicher Gewalt gefügig gemacht und selbst auch an dem Missbrauch teilgenommen haben.
Epstein hatte sie einmal als seine beste Freundin bezeichnet, auch eine romantische Beziehung zwischen den beiden ist bezeugt, von Epsteins Seite allerdings nicht exklusiv. Klar jedenfalls ist nach Ghislaines eigener Aussage, dass sie für ihn als Assistentin tätig war, geschäftliche Termine organisierte und Vermögen verwaltete.

Profil einer Täterin

Das Problem ist: Man weiß nicht viel über Ghislaine. Welche Persönlichkeit ist sie? Darüber gibt es mehr Unbekanntes als Bekanntes. Aber nehmen wir an, sie ist so, wie das Gericht sie sieht, dann wissen wir aus der wissenschaftlichen Forschung aus USA über Frauen, die Minderjährige missbrauchen folgendes:

  • Missbrauchstäter sind überwiegend männlich, um die fünf Prozent sind Frauen.
  • Die Täterinnen sind meist zwischen 20 und 30 Jahre alt, haben keine höhere Bildung und geringen sozio-ökonomischen Status.
  • Wenn Frauen Missbrauch begehen, kommen sie überwiegend damit davon, nur selten kommt es zur Anzeige und zu Strafermittlungen.
  • Unter ihnen gibt es psychische Störungen wie Psychosen, Schizophrenien, schwere Depression, bipolare Störung oder Persönlichkeitsstörungen, wie dependente, histrionische, borderline oder antisoziale Persönlichkeit.
  • Überrepresentiert sind Substanzabhängigkeiten und posttraumatische Belastungsstörungen.
  • Ungefähr 40 Prozent dieser Täterinnen haben signifikante mentale Probleme.
  • Hinsichtlich der Taten fällt auf, dass Frauen als Täterinnen zu 70 Prozent mit einem männlichen Täter kooperieren. Sind sie alleine tätig, so setzen sie weitaus weniger auf Zwang als ihre „männlichen Kollegen“ oder fügen den Opfern weitaus seltenen pychischen Schaden zu. Nach Aussage der Opfer nahm Ghislaine sie auf shopping-Touren mit, interessierte sich für ihr Leben und Person, lebte ihnen einen freizügigen Umgang vor, zog sich vor ihnen aus usw.  Man kann sagen, sie normalisierte damit Epsteins Art, Kontakte zur sexuellen Ausbeutung anzubahnen.
  • In 58 Prozent aller Fälle hat die Täterin nur ein Opfer, das zu ihr eine Beziehung aufgebaut hat.  Ebenso sticht heraus, dass die Täterin in Kindheit und Jugend Misshandlungen ausgesetzt war und auch später hinsichtlich romantischer Beziehungen keine glücklichen Entscheidungen getroffen hat. Oftmals wählt sie Männer, die sexuellen Missbrauch tätigten.
  • Täterinnen neigen dazu, für ihren Taten Verantwortung zu übernehmen, wenn sie überführt werden.

Persönlichkeitsprofil nach dem 5-Fakter-Modell:

 Das 5-Faktor-Modell ist eines der empirisch weltweit am besten belegten Modell, um Persönlichkeit beschreiben zu können, quer durch alles Kontinennten und Kulturen. Bei weiblichen Tätern wäre von folgendem Profil auszugehen:

  • Offenheit für neue Erfahrungen: unspezifisch. Dieser Faktor hat keine Beziehung hinsichtlich Übergriffigkeit oder Achtung gegenüber anderen
  • Gewissenhaftigkeit: gering
  • Extroversion (das Gegenteil von introvertiert): gering
  • Soziale Verträglichkeit: gering bis mittel
  • Neurotizismus (emotionale Instabilität): hoch

Das alles überrascht nicht, wenn man an die oben aufgezählten Persönlichkeitsstörungen denkt. Doch was davon trifft auf Ghislaine womöglich zu?

Ghislaine Maxwell im Profil

Kontra:

  • Ghislaine ist älter
  • hat hohen sozial-ökonomischen Status (Kontakt zu Prinz andres, Bill Clinton ...)
  • ist gebildet
  • keine mentalen Störungen bekannt
  • sie weist mehr als nur ein Opfer auf

Pro:

  • Taten erfolgten in Gefolgschaft eines Täters
  • Schlechte Entscheidungen hinsichtlich Partnerschaften (gibt es eigentlich noch schlechtere Entscheidungen hinsichtliche eines Partner, als Ghislaine sie getroffen hat?)

Was das 5-Faktor-Modell bei Ghislaine Maxwell betrifft:

  • Offenheit für neue Erfahrungen: hoch (ihr Hintergrund ist international, ihre Ausbildung vielfältig, die Wahrnehmung unterschiedlicher Geschäftsfelder ausgeprägt)
  • Gewissenhaftigkeit: mittel (viele Neuanfänge, weniger Kontinuität, jedoch genug, um verwalterische Tätigkeiten zu übernehmen und die damit verbundenen Verpflichtungen nachzukommen)
  • Extroversion: gering (gilt eher als verschwiegen hinsichtlich ihrer Person, keine Tendenzn, im Mittelpunkt zu stehen, eine eher ruhigere Erscheinung)
  • Soziale Verträglichkeit: mittel (passend zur geringen Extroversion, bewegt sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten beruflicher Natur)
  • Neurotizismus: gering (ist emotional stabil, gefasst, rational, auch im gerichtsverfahren, in dem es de facto um ihr restliches Leben geht wirkte sie laut Zeugen beherrscht)

Mit anderen Worten: Sie wäre einfach nicht der Typ für solche Verbrechen. Ihr Fall ist eher atypisch. Was uns zur Frage führt: Warum?

Einige Gedanken von mir: Sie haben etwas mit Freiheit zu tun.

Wenn Menschen in hohe Positionen mit finanzieller Freiheit gelangen, tendieren sie dazu, diese auch zu nutzen. Das Ergebnis ist ein Gefühl, sich alles, was man will, auch leisten zu können. Es zeigt sich am materiellen Konsum, ohne groß über die Konsequenzen nachdenken zu müssen. Damit verschieben sich die bisherigen mentalen Einstellungen. Wer das Gefühl hat, sich alles leisten zu können, hat schließlich den Eindruck, sich alles leisten zu können.

Doch was bleibt, wenn alles erreichbar scheint? „Alles“ bedeutet eine Grenze, denn darüber hinaus gibt es nichts. Bis dahin jedoch leben die Leute in einem Zustand des „immer mehr, immer weiter“. Genau das ist ja ein Teil von Freiheit: tun zu können, was man will.

Freiheit ist nur dort möglich, wo Grenzen auch überschritten oder zumindest ausgedehnt werden können. „Alles“ jedoch schliesst diese Weite endgültig. Wo alles erreichbar ist, besteht keine Möglichkeit. „Alles“ meint deshalb immer auch Perspektivenlosigkeit, Status quo, Alltagsnormalität und existentielle Langeweile.

In dieser Position erscheint die einzig noch verbleibende Möglichkeit das Verbotene. Tiefenpsychologisch und psychoanalytisch betrachtet finden wir dieses in unseren Begierden, Trieben, in dem was Kultur und Zivilisation in uns zähmen. Sich darauf einzulassen bedeutet für viele von uns, Neuland zu betreten - gefährliches Neuland. Schließlich sind es die Seiten an uns, die wir so erfolgreich nicht in den Blick nehmen wollen. Gleichzeitig vermittelt eine solche Reise der betreffender Person wieder Aufregung und Bedeutung. Auch sehen wir, dass hier Arroganz und Narzissmus eine bestätigende forcierende Rolle spielen können.

Der Prozess in den USA gegen Ghislaine hat etwas. Ist sie doch reich und hervorragend vernetzt, beides signifikante Merkmale, die Menschen aufweisen, die sich den Konsequenzen ihres Handelns entziehen können. Auch können ihr bestimmte Vorwürfe aufgrund der aussergerichtlichen Einigung von 2008 aufgrund der damaligen aussergerichtlichen Einigung nicht mehr zur Last gelegt werden. Womöglich lag es auch daran, dass die Jury lange gebraucht hatte, um so einem einvernehmlichen Urteil zu kommen. Wird das Urteil jedoch rechtskräftig, wird sie de facto bis zu ihrem Lebensende eingesperrt sein.
Ihre anwaltliche Vertretung jedenfalls hat angekündigt, in Berufung zu gehen.

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