13. April 2020

Corona, Verbote, Zwangseinweisung und Kritik -

Corona Virus, Verbote,
Zwangseinweisung, Kritik
Noch eine Woche bis zum Stichtag. Wird die Ausgangsbeschränkung gelockert? Wenn ja, wie? Zur Zeit bekomme ich Mails zum Thema:

"Die Ausgangsbeschränkungen sind übertrieben. Das Virus ist gar nicht so gefährlich. Es ist doch alles nur im Rahmen einer Influenza, und da sterben ebenfalls zigtausend Leute ohne Ausgangssperre" und so weiter.

Viele schicken Links, in denen dann auf Videos verwiesen wird, in denen jemand aus der Medizin in dieser Richtung seine Meinung vorträgt. sogar von Leuten, die ich nicht kenne und die einfach meine Adresse benutzen.
Aber was steckt aus psychologischer Sicht hinter solchen Aussagen? Die Wissenschaft hat dafür ein gutes Modell.


Was einem blühen kann, wenn man sich nicht an die Ausgangsbeschränkungen hält

In Sachsen kann jemand, der sich nicht an die Quarantänebestimmungen hält, in die Psychatrie eingeliefert werden. Laut Sozialministerium hat die Regierung dort in den Kliniken Altscherbitz, Arnsdorf, Großschweidnitz und Rodewisch dafür 22 Zimmer reserviert, um dort unter Bewachung der Polizei die Leute, die sich den staatlichen Massnahmen widersetzen, festzuhalten. Das Verfahren ist rechtlich ok, so das Infektionsschutzgesetz. Es spricht von Unterbringung im abgeschlossenen (Teil eines) Krankenhaus.

In Indien mussten nun Touristen, die sich nicht an die Ausgangssperre gehalten haben, eine kuriose Strafe erdulten. Die Polizei verurteilte sie dazu, 400mal den Satz abzuschreiben: "Ich habe mich nicht an die Regeln der Ausgangssperre gehalten, das tut mir Leid!" Zudem dürfen sie jetzt nur noch unter Aufsicht das Hotel verlassen.
Was so nach Schulstrafe aus vergangenen Zeiten erinnert, ist in Indien eine sehr humane Auflage, für die Bevölkerung selbst gab es Bilder von Gewaltanwendungen durch die Polizei.

China verbreitet die Nachricht von der eigenen Effizienz und Richtigkeit der dortigen Massnahmen (auch wenn das so wohl nicht für die ersten Monate zutrifft), was wohl auch dsa Einsperren der Leute in den eigenen Wohnungen umfasst.

Was ist verhältnismässig an den Beschränkungen?

All das gehört zum Thema "Verhältnismässigkeit". Aber wie bestimmt man, wann was verhältnismässig ist? Sind Grundrechte zu respektieren, wenn dadurch Menschenleben gefährdet werden? Unsere Ethik sagt hier "nein", denn Grund- und Menschenrechte sind dazu da, um Leben zu schützen. Wenn also ein Grundrecht Menschenleben schädigt, hat es sich selbst ad absurdum geführt. So sind auch die jetzigen Massnahmen von Gerichten als rechtlich ok beurteilt worden.

Was ist mit China, Indien?

China und Indien sind nicht nur geografisch riesig. Auch mental haben die Länder wenig mit dem zu tun, was wir gewohnt sind. Politisch gesehen sowieso. Gesellschaftlich sind sie sehr nationalistisch gesprägt. Der indische Premierminister nennt sich selbst Hindu-Nationalist. (Das waren die Gegner von Mahatma Ghandis) In China ist eine alltägliche offene Diskussionskultur dort seit Jahrzehnten flächendeckend im Einparteienstaat nicht gegeben oder gewünscht. Viel mehr geht es darum, sich selbst als Massstab der Welt zu etablieren. Am chinesischen Wesen soll die Welt genesen. Hört man Leuten zu, die China von innen her kennen (und da meine ich jetzt nicht die westlichen Gastprofessoren an den Unis und andere im Establishment Tätigen), ergeben sich andere Informationen, die zeigen, dass zur chinesischen Entscheidung auch andere als medizinische Komponenten eine tragende Rolle spielten.

Verhältnismässigkeit ist aus Prinzip nur hinterher machbar

Verhältnismässigkeit trägt oft eine Schwierigkeit in sich, die nicht bewältigbar ist: Die der unvollständigen Information. De facto haben wir es mit einem neuen Virus zu tun und bei allem, was neu ist, muss man sich erst einarbeiten, um zu wissen, was man vor sich hat. Aber bereits vorher müssen Entscheidungen getroffen werden, auch wenn das dazu nötige Wissen nicht ausreichend vorhanden ist.

Tatsächlich haben wir meistens bei komplexen Sachverhalten (= Themen, die viele Sachgebiete umfassen) nie den Überblick über die Informationen, die wir bräuchten, um wirklich verhältnismässig entscheiden zu können. Den Überblick haben wir erst hinterher und erst dann können wir wirklich daraus lernen.

Die Lücke der Experten

Ein Virologe mag das Virus verstehen. Ein Epidemiologe kennt sich mit Verbreitung, Ablauf etc. von Epidemien aus. Aber was verstehen beide von Auswirkungen von Massnahmen auf die Gesellschaft oder auf die Psyche von Einzelnen?

Wenn ein Epidemiologe sagt, der wirtschaftliche Schaden eines lockdowns sei grösser als der Schaden durch das Virus, dann heisst das im Klartext, dass die finanziellen Einbussen den Wert der verlorenen Menschenleben übersteigen. Was bedeutet, er / sie müsste darlegen können, wie er Menschenleben finanziell beziffert, müsste wissen wie viele durch das Virus gestorben sind, wie viele ohne lockdown noch sterben, dann diese Leben addieren, die Folgekosten noch dazu nehmen und dann die Summe gegenrechnen mit den Verlusten, die die Wirtschaft jetzt hat.

Ich war vor kurzen Teil einer Diskussionrunde, die in eine solche Richtung tendierte: Ja, die Alten sterben, aber die Jungen bringen doch mehr für die Gesellschaft. Die Risikogruppe solle man entsprechend isolieren, die anderen sollten wieder in die wirtschaftlich Profitabilität einsteigen können. Wegen der Alten die ganze Wirtschaft runterzufahren, sei nicht in Ordnung. Ihr Beitrag zur Wirtschaft und Gesellschaft sei nicht so gross.

Wie seriös ist das alles?

Jetzt verbietet unser Wertesystem (und die Rechtsordnung) Menschenleben aufzuwiegen, im Alltagsablauf wird es natürlich gemacht. Ich erinnerte mich an einen Artikel aus der Wirtschaftsmathematik von zig Jahren. Dort wurde für die Versicherer errechnet, welcher Schadensfall auf sie zukäme, wenn Menschen sterben. Der Artikel verglich deutsche und amerikanische Verhältnisse und zeigte grosse Unterschiede auf.

Der Autor lieferte auch die Erklärung mit: Dass der in USA bezifferte Schaden so viel grösser sei, läge daran, dass in der Berechnung ein Amerikaner 1,5 Millionen Dollar mehr Wert sei als ein Deutscher. Die Amerikaner haben einfach für ein amerikanisches Leben einen vielfach höheren Wert eingesetzt wie die deutschen Versicherer.

Aber ist das seriös so zu rechnen? Amerikaner sind finanziell mehr Wert als Deutsche? Oder müsste man nicht für eine echte Gleichung den Wert eines Leben einheitlich angeben? Auf welche Zahl kann man sich dann einigen? Mit welchen Argumenten?


Noch gar nicht angesprochen ist, dass man natürlich den Schaden (z.B in der Ökologie), den die Wirtschaft verursacht, von deren Summe wieder abziehen müsste, um zu einem realistischen Wert zu gelangen. Das alles wäre doch sehr sehr schwierig, überhaupt durchzuführen.

Nach dieser Information stutzten meine Diskussionsteilnehmer kurz, nur um dann wieder zu ihren Ansichten zurückzukehren. Die Psychologie dahinter ist gut erforscht. Es handelt sich hier um Festingers "kognitive Dissonanz". Was gat ein Psychologe schon Wirtschaftlern zu sagen?

Kognitive Dissonanz

Kognitive Dissonanz entsteht, wenn Kognitionen (z.B. Gedanken) sich widersprechen, ich also so was wie zwei Stimmen im Kopf haben, die gleichzeitig da sind und Gegenteiliges behaupten: "Ich liebe Pommes mit Mayo - Ich sollte mich gesünder ernähren!"


Man weiss, was eigentlich dran wäre, aber man will auch das Andere. Kognitive Dissonanz löst sehr ungute Gefühle aus und die will man verständlicherweise loshaben. Was die Diskussionsrunde tat, war eine bekannte Möglichkeit (die Wissenschaft hat insgesamt fünf identifiziert), wie kognitive Dissonanzen beendet werden: die Meinung, die gegen meine Entscheidung spricht, nicht weiter zu verfolgen. Der Fachbegriff heisst: "Subtraktion dissonanter Kognitionen (=Ignorieren, Verdrängen, Vergessen)".

Genau das passiert auch in der Diskussion um Lockdowns. Die Experten stellen ihre Meinung aus ihrer Sicht dar und ignorieren die anderen Meinungen aus anderen Fachbereichen. Besonders auffällig ist das, wenn sie sich zu Themen äussern, zu denen sie keine Übersicht haben. Zu sagen, ich als Epidemiologe habe überhaupt keinen Schimmer, ob der Lockdown schlimmer ist als das Virus selbst, ist so ein Fall.


Kognitive Dissonanz aufzulösen ist notwendig

Dabei ist zu beachten, dass die Fähigkeit, kognitive Dissonanz aufzulösen, ein notwendiges Element ist, damit wir überhaupt handlungsfähig sind. Systemisch gesprochen handelt es sich hier um Komplexitätsreduktion und wir alle machen das. Die Leute sind nicht dumm, verstockt oder sonst etwas. Vielleicht nur etwas betriebsblind gegenüber dem eigenen Betriebssstem (was so ziemlich jeder in der einen oder anderen Form ist).

Um dem abzuhelfen, braucht es etwas anderes: Wissen und Akzeptanz, dass wir Entscheidungen treffen müssen, ohne alle dafür nötigen Informationen zu haben. Was nichts anderes heisst als: Unser Leben findet ausschliesslich unter dem Vorzeichen von Unsicherheit statt.


Auch das lässt kognitive Dissonanz entstehen, denn wer will schon ein unsicheres Leben? Wir wollen die Dinge im Griff haben, wir wollen kontrollieren, wir wollen Herr der Lage sein! Wir geben höchstens abstrakt und intellektuell zu, dass wir das Leben nicht im Griff haben (wir können uns nicht aussuchen, welche Eltern wir haben, an was wir sterben werden, welche Krankheiten wir bekommen, ob  unsere Beziehung hält etc.).

Wir tun viel, um das Gefühl von Sicherheit zu bekommen (=alles Methoden, um kognitive Dissonanz zu verringern), ohne damit zu einem Ende zu gelangen. Das ist die eigentliche Gefahr für Demokratien. Denn zu Ende kommt es nur, wenn wir wirklich zu einer Haltung zu gelangen, die sagt: Tatsächlich weiss ich dazu nicht genug. Alles, was ich tun kann, ist, es zu versuchen. Ich führe mein Leben im Angesicht von Unsicherheit und damit bin ich in Frieden. Es bestärkt mich in meinem Mitgefühl für mich und andere. Eine solche Haltung erkenne ich nicht bei der jetzigen Diskussion.

Kleiner Nachtrag:

"Es ist ein trauriger Rekord: In Ecuador hat eine Sondereinheit der Polizei mehr als 1400 Leichen aus der Hafenstadt Guayaquil abgeholt. Weil das örtliche Gesundheitssystem und die Beerdigungsunternehmen durch die Corona-Krise völlig überlastet sind, brachte die Einheit seit dem 31. März bereits mindestens 771 Leichen aus Wohnungen und Häusern weg. 631 Tote wurden aus Krankenhäusern geholt, damit sie beigesetzt werden können."

Solche Vorgkommnisse brauchen auch eine ethische Bewertung, denn Ethik ruft nach Konsequenzen. Ich sehen in all den Mails, die ich bekommen, kein einziges statement zu diesen Fakten, nur mmimosenhaftes Geplappere à la "ich bin eingeschränkt und das ist unfair". Das ist mir zu wenig.

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