12. Oktober 2019

Joker - ein philosophisches Psychogramm

Der neue Joker - Film spaltet die Gemüter
Der aktuelle Joker-Film spaltet die Gemüter. Menschen verlassen die Kinovorstellung, weil sie das
alles nicht ertragen können. Zu düster, zu hoffnungslos, zu viele Abgründe. Andere sagen, der Film sei gewaltverherrlichend. Die nächsten sagen, er sei rassistisch, beziehungsweise nicht divers genug. Andere fordern eine Trigger-Warnung zu Filmbeginn.

Mein Standpunkt: Wenn der Film Joker all diese Reaktionen hervorruft, dann ist der Film für diese Leute genau richtig! Deshalb hier ein philosophisches Psychogramm des Jokers!


Gewaltverherrlichung

Leute, bitte! Dieser Punkt ist so oberflächlich wie stereotyp. Auch beim zur Zeit aktuellen Rambo-Film hat man gesagt, er treibe die ewalt auf ein neues Level. Weil hier jemand als Höhepunkt (Achtung Spoiler!) das Herz rausgeschnitten wird?

Wirklich? Das war schon in „Der letzte Mohikaner“ mit Daniel Day-Lewis der Fall. Dazu haben wir die komplette Saw-Reihe und dutzende ihrer Ableger der porn-violence hinter uns. Und darf ich an die Hannibal Holocaust -Filme aus en 80ern erinnern? Nebenbei: Der deutsche Titel des Films lautete „Nackt und zerfleischt“. Das lässt schon auf dem Film an sich schliessen.
Für wen aber das bereits unbekannte Geschichte ist oder wer ein schlechtes Gedächtnis hat, der kann bei Wikipedia bezüglich der Handlung nachlesen:
"Um besonders spannende und authentische Szenen zu bekommen, scheute das Filmteam nicht davor zurück, ein komplettes Dorf niederzubrennen und dabei den Tod vieler Eingeborener in Kauf zu nehmen. Darüber hinaus filmte das Team die Vergewaltigung einer Eingeborenen durch die drei Männer der Crew. Anschließend pfählen sie die Eingeborene auf einen dünnen Baumstamm."


Und jetzt? Ist es da nicht etwas lächerlich, sich über Joker, Rambo und Konsortien aufzuregen? Zurück zum Thema.

Die Essenz des Jokers: Unser Leben

Joker: eine Figur aus einem Alptraum
Wie aus einem Alptraum
Der Joker-Film ist mit dem Thema Gewalt nicht verherrlichend, aber viel effektiver. Denn während Filme wie Rambo als Geschichte immer von einem Ausnahmezustand erzählen, also einen Bereich, in dem selbst Kriegsbrutalitäten nicht mehr den Normalfall darstellen, zeigt der Joker-Film genau den Normalfall, unsere Lebensweise, als permanenten gewalterfüllten Abgrund.

Wer denkt, es existieren doch auch Liebe, Rationalität, Solidarität, Empathie, Recht und Gerechtigkeit, dem wird vor Augen geführt, wie diese vor die Hunde gehen, eigentlich nur eine Selbsttäuschung sind. Wer an diese Werte glaubt, der leidet an Realitätsverlust, muss selber geisteskrank sein. Das ist die Welt von Joker. Das ist das Leben. Das ist unser Leben.

Wir sind nur geistig zu wenig aufnahmebereit, um es selbst zu merken. Schlafschafe eben. Und der Joker ist derjenige, der uns aufweckt, der die Wahrheit verkündet, ja sie lebt und verkörpert. Er ist der Missionar der Wahrheit, ihr Advokat. Er bringt den Menschen das Licht der Aufklärung.

Die Figur als Oberfläche

Der JOker
Joker: Sein Aussehen zeigt sein Wesen
An der Figur selbst und ihrer Erscheinung lässt sich dies bereits ablesen: Weisgeschminktes Gesicht, grüne Haare, grellrot geschminkter Mund, eine hagere Clownsgestalt mit Blume im Knopfloch. Auch Stephen King hat in "Es" das schlechthin Böse mit einer Clownsfigur zusammengeschmolzen. Hier fallen eine Figur, welche in unserem Alltag dem Wesen nach eine lustige Harmlosigkeit zur Kinderunterhaltung verkörpert, mit einer verschlingenden Bestie zusammen. Damit ist nicht gemeint, dass sich hinter unserem normalen Alltag, so wie wir das Leben sehen, das Grauen verbirgt. Denn in Wirklichkeit ist unser Leben selbst das Grauen. Es gibt nichts Doppelbödiges, keinen Abgrund, der hinter all dem lauert. Unser Leben selbst ist der menschliche Abgrund. Wir sind nur zu verblendet, es so richtig zu interpretieren.

Unter der Oberfläche

Lange Zeit seit seinem ersten Auftreten 1940 sahen viele jahrelang im Joker nur einen grotesk wahnsinnigen mörderischen Gegenspieler zum eigentlichen Helden Batman, doch ist die Figur schon von der Idee her viel tiefenschichtiger. Sie fusst auf alten philosophischen antiken Mythologien und menschlichen Erfahrungswissen.

Doch schauen wir uns erst einmal ein Utensil an: die Spielkarte, die der Joker als sein Wahrzeichen in den Comics an seinen Opfern oft hinterlässt:

Die Spielkarte "Joker" als Symbol für sein Wesen

Die Spielkarte „Joker“ ersetzt im Spiel jede andere Karte. Im Englischen heisst sie „Wild Card“ und genau so verhält sich auch die Figur des Jokers. Der Joker schaltet beliebig andere (menschliche) Figuren aus. Einfach so. Seine Gewalt springt dabei auf wie eine Spielkarte, die plötzlich gezogen und auf den Tisch gehauen wird. Und sie sticht. In „Dark Knight Rises“ von Christopher Nolan ist es ein Stift, auf den der Joker völlig unvorbereitet einen Menschen durchs Auge nagelt, während drum herum die Tagunsgteilnehmer sitzen. Danach geht die Szene weiter, als wäre nichts passiert, während der Zuschauer noch geschockt im Kinosessel sitzt und im Kopf sich zwei Fragen breit machen:
1. „Ach du Sch…!“ und
2. „Was zum Teufel war das gerade?“

Das ist die Joker-Karte und so ist sein Wesen. Es sticht, eliminiert, brutal, dabei aber so beiläufig wie Zähneputzen. So wie unsere Erfahrung, wenn plätzlich ein Teil unseres Lebens zu Bruch geht: das Chaos kommt immer plötzlich und unvermittelt, auch wenn es schon längst Seite an Seite mit einem lebt, schlägt der Joker zu.

Die frohe Botschaft des Jokers: Weit mehr als antisozial und gewalttätig

Psychologen haben der Figur gerne die Diagnose "antisoziale Störung" verpasst. Sie zählt zu den Persönlichkeitsstörungen, aber meines Erachten trifft das nicht richtig zu.

Natürlich, die Figur ist antisozial im höchsten Grade, sie bricht alle Regeln, schert sich einen Teufel um Recht, Gesetz, Leid. Empathie kommt nicht vor, die Figur mordet und verbreitet Terror und ein irres Lachen. Und doch geht es der Figur nicht um Leid und ums Berauschen am Schmerz des anderen.

Die Geschichten erzählen vielmehr von einem Katz-und-Maus-Spiel des Jokers mit der Heldenfigur Batman, besonders exemplarisch in Christopher Nolans Dark Knight Rises oder im Kultcomic "The Killing Joke": Hier braucht es nur einen einzigen schlechten Tag, um wahnsinnig zu werden, so die Botschaft.

Dem Joker geht es tatsächlich um eine grundsätzliche Einstellung zur Welt: Schaut her, alles ist Wahnsinn, euer Leben ist das Nackte, Brutale, alles Verschlingende. In eurer selbstverschuldeten Ignoranz vermeidet ihr, die Wahrheit zu sehen, deshalb zeige ich sie euch! Der Joker ist von zutiefst Aufklärer. Sein Anliegen ist "der Herausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", wie Immanuel Kant Aufklärung definierte. Doch wenn der Mensch dies tut, wenn er also mündig wird, findet er Wahnsinn, Chaos, die Umwertung aller bisherigen Werte, als das eigentlich Normale.

Was der Wahnsinn wirklich ist

Doch Wahnsinn ist hier kein „einfach-nur-durchgeknallt-sein“, vielmehr eine Chiffre für: „Nicht fassbar“. Denn für einen psychologisch Verrückten handelt diese Figur zu strategisch, zu intelligent-rational. „Ist es doch Wahnsinn, hat es doch Methode“, könnte man jetzt sagen, und dennoch ist Joker keine shakespearehafte Figur. Denn selbst sein strategisch geplantes Vorgehen wird gleichzeitig wieder von seiner Impulsivität wüst durchbrochen.

„Gib mir einen Punkt, wo ich hintreten kann, und ich hebe die Erde aus den Angeln.“, schrieb der Philosoph und Mathematiker Archimedes. Der Joker bietet keinen. Da ist nichts, worauf man sich bei der Interpretation stützen kann. Rationalität, Planbarkeit, Wahnsinn, Irrationalität, alles fällt in eins.

Lachen und Wahnsinn - das ist der Joker
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Selbst eine der menschlichsten Regungen, die wir nur mit wenigen Artgenossen teilen, nämlich die Fähigkeit, zu lachen, existiert hier nur zusammen mit Monstrosität. Dass dem Joker in den unmöglichsten Situationen ein scheinbar von Dämonen gequältes Kichern überfällt, ist weit mehr als  eine psychologische Tick-Störung. Es ist Ausdruck des Chaos selbst, das Gegenteil von allem, auf das wir uns stützen und verlassen können.

Joker ist keine psychisch gestörte Gestalt, wie es die Psychologen zu deuten versuchen, sondern das personifizerte Chaos selbst: Es hat deshalb auch in den Geschichten keinen Anfang, kein Ende. Er ist einfach. Das Chaos existiert einfach, ohne Beginn, ohne Ende. Es verweigert sich jeder Erklärung. Es ist rational nicht einfangbar. Es ist nicht so primitiv, dass dafür der logische Verstand eine Erklärung finden könnte. So bleibt die Figur trotz unterschiedlicher  Erzählstränge hinsichtlich ihrer Herkunft und Motivation letztendlich im Dunkeln:



Eine mythologische Figur

Joker = Chaos. Ohne Grenzen, ohne Schranken. wir kennen eine solche Figur aus unserer Geschichte. Er ist der Leviathan aus der jüdisch-christlichen Mythologie, jene angstenflössende  kosmische vernichtende Urgewalt, jene jede Ordnung verschlingende Allmacht aus den babylonischen Quellen unserer Zivilisation.
Tiamat, Leviathan: Jokers Ursprünge
 Seine älteste Erwähnung findet sich in der drachenartigen Salzwassergöttin Tiamat in Mesopotamien, die in den Untiefen des Meeres - von jeher ein Symbol für die menschlichen Seelengründe - lebt. Erst wenn sie durch den Meenschenschöpfergott Marduk (Bel) besiegt ist, bekommen die Götter eine Wohnstätte im Universum. Die Welt der Götter - der Lebensgrund der Menschen - kann nur existieren, wenn das Chaos zurückgedrängt, geschlagen und eliminiert wurde. Chaos und die lebensspendende (Götter-)quelle der Menschen können nicht nebenher existieren.

Joker: Seine Attribute sind Symbole für seinen Ursprung
Die grünen Haare des Jokers mögen (un-)bewusste Anklänge auf das Meereselement von Tiamat sein, sein blutig rot geschminkter Mund für die allverschlingende Macht des Leviathans stehen. Der Joker verkörpert nicht nur das lebensbedrohende Chaos, er selbst kommt aus den Untiefen unserer Existenz, für die das Meer als Symbol stand, aus dessen Tiefen furchterregende Ungeheuer aufsteigen.

Destruction of Leviathan
Der Leviathan - die mythische Figur
„Vom tiefsten Meeresgrund – wälzet sich Leviathan – auf schäumender Well’ empor“, komponierte Joseph Haydn in seinem Oratorium „Die Schöpfung“. Der Leviathan steht für alles, was vor der Schöpfung bestand. Er ist deren Gegenmacht. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde und die Erde war "wüst und wirr". Das hebräische Wort im Text lautet Tohuwabohu. Und genau das ist das Wesen des Jokers.

Er ist Vernichtung, Gegenkraft gegen alles, was gut, göttlich, lebensspendend, lebenserhalten ist. Er ist eine Kraft, die unter uns haust und urplötzlich hervorbricht, so wie die Gewalt aus der Figur. Ständig wartet man in Joachim Phoenix´ Darstellung auf diesen Ausbruch und es ist diese suspense, die diese Figur als Abgrund in unseren Geist hinein präsent hält.


Die Apokalypse: Batman und Joker

Batman und Joker - einer geht nicht ohne den anderen
Batman´s origin story scheint dagegen unmythologisch: Bruce Wayne wird als kleiner Junge traumatisiert durch die Ermordung seiner Eltern, was folgt, ist Einsamkeit, Verlorenheit und eine tiefe psychische Dunkelheit, in die er fällt - auch tatsächlich fällt er im Film nach der Beerdigung in eine dunkle Fledermaushöhle.
Diese Dunkelheit hüllt ihn ein, bis er sich schliesslich selbst in sie verhüllt - als Batman kommt er zurück.

So sind beide Figuren - Batman und Joker - miteinander verwoben, wie viele Kommentatoren bemerkt haben. Manche Versionen verweben die Gründergeschichten der beiden so miteinander, dass der eine jeweils zum Ursprung des anderen wird. Ordnung - dafür steht in gewisser Weise der Batman - und Chaos sind nicht ohne einander denkbar.

Das ist nicht das asiatische Yin und Yang, das zwar gerne durch schwarz und weiss dargestellt wird, aber doch genau durch seine Gegensätzlichkeit Schönheit und Harmonie erzeugt. Das Erbe Tiamats bringt nichts dergleichen hervor, sondern führt zum apokalyptischen Kampf, der Himmel und Erde umfasst.
So ist es kein Zufall, dass in den Erzählsträngen von Batman die Ermordung seiner Eltern und die Folgen, die dies für sein ganzes Leben hat, zuweilen apokalyptische Ausmasse annimmt.

Beide, der Joker (und auch Batman) sind in gewisser Weise wie Archetypen und stehen für die Tiefen unserer menschlichen Existenz. Die Figuren sind so von vorn herein tiefgründiger angelegt wie die Konkurrenz der Marvel-Helden und sie sind in ihrem Kern weit mehr, als Adaptionen alter Göttergeschichten für Superheldenformate.

Unsterblichkeit

Erklärt nun der Film „Joker“ als Ursprungsgeschichte die Figur und entmystifiziert sie? Kann ein Mensch durch Misshandlungen durch seine Umwelt zu so einen Wahnsinnigen werden? Was passiert, wenn eine Gesellschaft diejenigen im Stich lässt, die wirklich Hilfe benötigen? Joachim Phoenix Darstellung scheint eine Antwort anzudeuten: Tiamat erwacht auf dem Grund in unseren Seelen. Und sie wird getragen von uns allen, so wie der Joker am Ende des Films von seiner Gefolgschaft.



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