Genau gesagt lautet der Satz "Er hätte sich umbringen sollen". Der Satz betitelt das Interview mit dem Vater des norwegischen Amokläufers Anders Behring Breivik. Ausschnitte davon gibt es hier: http://bit.ly/r4e0it
Es scheint sich zu bewahrheiten, was manche nach den Amoklauf in Winnenden prophezeit haben: Amokläufe werden auch in Europa zunehmen. Wie auch immer, es sind Menschen gestorben, darunter Kinder, Jugendliche. Durch eine Bombe, durch gezielte Schüsse, alles wurde vorbereitet in langer und zielstrebiger Planung. Solche Amokläufe sind rational durchkalkuliert, nicht selten bis zum "Suizid des Schützen durch Polizeikugeln."
Die Reaktionen, die solch ein Amoklauf in der Gesellschaft hervorruft, lassen Muster erkennen.
Da ist zuerst das fassungslose Entsetzen, das alle zum Verstummen bringt. Die Gesellschaft schweigt, weil es keine Worte gibt, die in dieser Phase das Ungeheure adäquat zum Ausdruck bringen können. Trauer, Wut, Abscheu treten auf und lassen Menschen verzweifeln oder aggressiv werden. Die Suche nach einen Schuldigen beginnt: Hätte man es verhindern können, wenn man die Signale beachtet hätte ... haben die Behörden, hat die Polizei ...
Nachbarn, Bekannte, Freunde des Amokläufers werden zitiert und zuerst heißt es "er war ein ganz normaler Mensch, da war nichts Auffälliges." Wenige Zeit später werden die Menschen sagen: "Ja, irgendwie komisch war er schon. Das und das ist mir aufgefallen, aber wer hätte gedacht, dass ..."
Schließlich erscheint ein Politiker, der aus den Ereignissen Profit schlagen will. Sei es, wie seiner Zeit Roland Koch, als in München irgendwelche Jugendliche sich bemüßigt fühlen, einen Mann tot zu schlagen, dies für seine Wahlkampagne nutzen wollte. Sei es, dass jetzt in einer harmloseren instrumentalisierten Variante der deutsche Innenminister die Gelegenheit nutzt, seine Meinung über deutsche Rechtsextremisten kundzutun. Dabei gehört er einer Regierung an, die die Gelder für die Aufklärung und Bekämpfung extremistischer Politik gekürzt hat. Aber das nur nebenbei.
Um was es Anders Behring Breivik in seinem zerstörerischen Kreuzzug ging, war Macht und Bedeutung. "Seht her, ich bin wer!", lautet das Glaubensbekenntnis, und damit steht er nicht alleine. Viele zettelten in dieser Religion in der Geschichte einen aus ihrer Sicht gerechten Krieg an. Gegen wen, ist dabei oft nur sekundär. Juden, Moslems, Christen, Kommunisten, Menschen mit anderer Hautfarbe, sogenannte Dekadente, sexuell anders Orientierte ... sie alle haben in der Geschichte als Zielscheibe herhalten müssen für dieses eine große Glaubensbekenntnis: "Seht her, ich bin wer!"
Es sei ein Mangel an Selbstbewusstsein, oft verbunden mit erlebten Ausgrenzungen und mit wenig eigenen Fertigkeiten, mit Niederlagen umzugehen, heißt es oft in psychologischen Veröffentlichungen. Kommen dann noch obskure Ideenkreise dazu, wird die Welt zum unwertem Leben, das ausgemerzt werden muss.
Wohl richtig ist: hinter Gewalt steckt oft ein niedriges Selbstbewusstsein. Aber es gibt meines Erachtens eine nicht unbedeutende Facette. Es geht eine andere Dynamik, es geht um das MEHR.
Wie immer der Level an Selbstbewusstsein sein mag, Menschen wie Anders Behring Breivik finden es nicht genug. Ihr jetziges Selbst ist nicht genug. Es geht darum, der Geschichte ein unauslöschliches Merkmal einzubrennen. Man könnte ja theoretisch sagen, ich habe ein geringes Selbstbewusstsein und es ist ok so. Ich kenne nur kaum jemand, der spontan so reagiert. Ich kenne aber viele, die mehr Selbstbewusstsein haben möchten. Sie knallen allerdings keine Menschen über den Haufen.
Aber es ist zu kurz gegriffen, wenn man annimmt, ein gesundes Selbstvertrauen wäre die Lösung. Es ist nicht so der Mangel an Selbstvertrauen, sondern der Wunsch nach Potenz, nach Steigerung. Es ist die Unfähigkeit zusagen: Es ist genug, es ist schon in Ordnung so.
Es scheint für Menschen nichts Schlimmeres zu geben, als sich bedeutungslos vorzukommen. Und es scheint in puncto Bedeutungslosigkeit zwei schnelle Möglichkeiten zu geben: Die einen bringen sich selbst um, andere bringen andere um. Beides sind radikale Reaktionen, beide bringen viel Leid über Unbeteiligte. Daher nutzt es nichts, wenn der Vater des Amokläufers ihm den Rat gibt, er hätte lieber sich selber umbringen sollen als andere. Er will sich damit auf die Seite der Opfer stellen und das ehrt ihn. Es ist allerdings keine Lösung zu sagen, bring dich lieber selber um. So ein Ratschlag bleibt nur der Sackgasse des Tötens verhaftet. Der einzige Vorteil wäre, statt 72 Tote gäbe es dann halt nur einen - eine ziemlich zynische Haltung, die eines mit dem Amokläufer gemein hat: Sie spricht jemand ab, zu leben.
Wo liegt dann die Lösung? Ich denke, es gibt keine, aber vielleicht einen Facette, wie man aus der Sackgasse herauskommt.
In einer freien Gesellschaft, sind Amokläufer nicht zu verhindern. Eine Alternative wäre eine Überwachungsdiktatur. In Staaten, in denen Diktatoren eisern herrschen, sind Amokläufer gegen die eigene Bevölkerung angeblich selten. Dort wirst du vielleicht nicht von einem Attentäter abgeknallt, dafür steht auf einmal die Staatspolizei vor deiner Haustür, führt dich ab und niemand wird dich jemals wiedersehen.
Ich kann hier nur von mir sprechen. Ich bemühe mich, in meiner Arbeit den Menschen, die zu mir kommen, mitzuteilen, dass es ganz in Ordnung ist, so wie sie sind. Dass es kein Urteil über den eigenen Wert darstellt, wenn man bestimmte Dinge kann und andere wiederum nicht auf die Reihe kriegt. Und dass die Dinge, die man nicht auf die Reihe kriegt, immer in der Überzahl sind. Und trotzdem ist es ganz ok so.
Ich kann z.B. drei Sprachen, eine davon ist meine Muttersprache, die zweite kann ich laut "Eingeborenen" sehr gut (Entschuldigung, aber das wurde mir echt gesagt!), die dritte ist einigermaßen ok, zwei weitere Spachen kann ich auf Anfängerniveau. Wenn ich berücksichtige, wie viele Spachen es aber insgesamt gibt, ist mein Können ziemlich lächerlich!!! Das meiste kann ich nicht.
Und das gilt auch für all die Dinge, von denen man meint, man müsste sie auf die Reihe kriegen, sonst sei man ein Versager. Es ist völlig natürlich, das meiste nicht auf die Reihe zu kriegen. Anstatt sich selbst dafür zu beurteilen, dann zu verzweifeln oder aggressiv gegen andere vorzugehen, ist es besser, mit seinem Nichtkönnen gut umzugehen, sagen zu können: Es ist schon in Ordnung so. Wie gesagt, ich bemühe mich, dies zu vermitteln. Nicht immer gelingt es auf voller Linie. Aber eine Gesellschaft, in der solch eine Geistesverfassung vorherrscht, tut sich schwer, einen Amokläufer hervorzubringen.
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