8. Dezember 2020

Amokfahrt in Trier. Oder: Warum immer mehr durchzudrehen scheinen

Im Zickzack-Kurs durch die Fußgängerzone mit dem Auto gerast, um Menschen zu töten - der 51jährige hat genau dies letzte Woche geschafft. Neben den 14 Verletzten sind fünf Menschen tot, darunter ein Vater und sein Baby. Der Mann steht nun unter Mordverdacht. Was ihn motiviert hat? Unbekannt. Die 1,4 Promille erklären das Disaster nicht. Auch der Verdacht einer psychischen Störung scheint sich nicht zu verdichten. Erweitern wir jedoch unseren Horizont über diesen Fall hinaus, so zeigt sich ein psychologisches Bild, das mich erschaudern lässt.

Wer sich mit Psychologen oder Psychiatern aus der Forensik unterhält, erhält auf der Frage, wer zum Verbrecher wird, eine einhellige Antwort: "Jeder! Wenn die Umstände entsprechend sind." Das ist kein Rückfall in vergangene Diskussionen nach dem Motto, Schuld ist nicht der Täter sondern die Gesellschaft. Vielmehr hat sich durchgesetzt, dass tatsächlich niemand davor gefeiht ist, anderen Schlimmes anzutun. Die Fähigkeiten, die es dazu braucht, sind die selben Fähigkeiten, die wir benutzen, um Gutes zu tun.
 

Was lässt uns dann entscheiden, Böses zu tun?

Abgesehen dass "Böses" kein psychologischer Begriff ist, sondern eher aus der Ethik, Moralphilosophie, Religion oder auch ein Stück weit aus der Rechtswissenschaft stammt ... die Ursachen, warum Menschen anderen schlimme Dinge antun, sind vielfältig und reichen von brutalem Umfeld, in dem jemand aufwächst, bis zu organisch-psychischen Störungen. Wobei insgesamt gilt: Wer kein Mitgefühl empfinden kann, egal, woran das liegt, für den ist der Weg zum "Bösen" breiter.
 

Was bei vielen Gewalttäter auftaucht

Es sind in ihrer Biografie der Tat vorausgehende Kränkungen. Kränkungen sind Tiefschläge gegen unsere Psyche, gegen unseren Selbstwert und gegen unsere Werte. "Ein Wort kann verwunden wie ein Dolch" besagt eine arabische Redewendung, und wer tief ins Herz getroffen und zusätzlich noch mit der Gleichgültigkeit seiner Umwelt gegenüber seiner Abwertung konfrontiert wurde, der zieht unbewusst-bewusst seine Schlüsse. Solche Kränkungen können das Tor öffnen für existentielle Krisen, für Krankheit und eben auch für Gewalt. Derjenige, der seine Partnerin aus Eifersucht erschlägt, wäre ein klassisches Beispiel dafür. Genauso wie der Schulattentäter, der sich eine Waffe besorgt und ein Massaker anrichtet, Stichwort Columbine in USA oder das deutsche Winnenden.
 

Unsere Berufswelt fördert Kränkungen

"Niemand soll glauben, wenn er 20 Jahre lang gute Arbeit geleistet hat, dass ihn das vor Arbeitsplatzverlust schützt", sagte der neue Personalchef auf der Betriebsversammlung. Ich frage mich damals, wie das wohl auf diejenigen wirkt, die 20 Jahre lang gute Arbeit in der Firma geleistet haben? Was passiert, wenn einer solchen Lebensleistung ganz offen die Wertschätzung verweigert wird? Was, wenn man so direkt zur austauschbaren Massenware degradiert wird?

Unsere Gesellschaft fördert Gewalt als Antwort

Natürlich nicht offen, sondern viel subtiler, indem Kränkung auf aufgebautes Image stösst. Unsere Gesellschaft ist davon durchdrungen, das eigene Ich ins Zentrum zu stellen und zu optimieren. Die beste Version seiner selbst zu kreieren, sich durchzusetzen gegenüber anderen, auf sich selbst zu schauen als denjenigen, über dem es nichts Höheres mehr gibt, ist gesellschaftlich mehr als akzeptiert. Ich plädiere jetzt nicht für Religion, aber die Devise "Unterm Strich zähl ich", wie ein Werbeslogan einmal lautete, suggeriert unterschwellig, dass außer mir eben nichts Gleichwertiges ist, was zählt.
 
Diese Ich-Zentrierung trifft nun auf Kränkungserfahrungen und je mehr ich um mich selbst als Mittelpunkt kreise, desto härter treffen mich die Einschläge einer Kränkung. Das kann die zunehmenden "motivlosen" Verbrechen erklären: Die Täter stammen nicht selten aus gutem Hause, sind intelligent, als Ursachen findet man in ihrer Biographie eher bagatellartige Ereignisse, Dinge, die die Tat in keinster Weise zu einer "vernünftigen" Ursache-Wirkung-Kette zusammenschweißen. Wer aber sich selbst als Zentrum und objektiv höchsten Wert ansieht, der reagiert, falls ihm die Anerkennung versagt bleibt, schnell mit Wut und Aggression.
 

Wir werden so erzogen oder erziehen so

Natürlich nicht alle, aber die Ichzentrierung eines Menschen hängt mit von seiner Erziehung ab. Verwöhnte Kinder entwickeln ein gutes Gefühl - für sich selbst und nicht für andere. Sie werden damit konfrontiert, Mittelpunkt zu sein, nach dem sich die anderen ausrichten. Mir ist ein Satz des Familientherapeuten Jesper Juul in Erinnerung geblieben. Sinngemäß:
 
"Um gut auf das Leben vorbereitet zu sein, brauchen Kinder zu 50 % gute und zu 50% schlechte Erfahrungen"
 
Man soll sich jetzt nicht an den 50% aufhängen, deren Sinn dürfte klar sein: Wer sein Kind immer nur vor allem Negativen beschützt, verhindert, dass das Kind einen Realitätssinn aufbauen kann. Es lernt nicht, sich selbst, seine Fähigkeiten und seine Grenzen gut einzuschätzen und wohlwollend damit umzugehen. 50% meint das, was wir als das "rechte Maß" bezeichnen. Kinder brauchen ein Gleichgewicht an Lob, Zuwendung, Hingabe, Herausforderung und Widrigkeit.
 
Ein bekannter Kinderpsychiater in Deutschland hat einmal in einem Fernsehinterview gesagt: "Immer wenn er von der Mutter / Vater hört, also für mich ist mein Sohn das Wichtigste, schaue er das Kind an und denkt sich: "Na, Kleiner, du hast es auch schwer zu Hause". Das gilt natürlich auch für Töchter.

Wir kommen in unserem Leben an Grenzen. Manchmal ist es einfach nur Glück, nicht zum Täter zu werden. Eine Gesellschaft, die subtil eher die Ellenbogen honoriert als die Kooperationen, braucht sich über "motivlose Gewaltausbrüche" nicht wundern. Es wäre schon ein Fortschritt, diese Zusammenhänge nicht mehr so einfach wegdiskutieren zu wollen.

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