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7. Februar 2016

Inspirierend oder kontraproduktiv: Leben und Tod einer 18jährigen

Sie ist tot. Aisha Chaudhari starb mit 18. Bekannt wurde sie durch einen tedx talk. "Sehr inspirierend", sagen die Kommentare, und in der Tat zieht ihre Ansprache ihre Kraft aus Aisha Chaudharis persönlichen Schicksal. Lässt man das jedoch einmal beiseite, so bleibt ein (etwas schlecht modulierter) Vortrag mit altbekannten Phrasen. Als Therapeut ist das für mich zwiespältig.

Darf man das sagen? Bei einer Toten? Bei einer 18jährigen Toten? Ja, denn der Gewinn von Aisha Chaudhari liegt meiner Beobachtung nach in ganz etwas anderem als in dem, was als Botschaft rüberkommen sollte. Und leider haben das, was wirklich helfen würde, die Veranstalter und Kommentatoren des talks allsamt übersehen.

Zur Info

Aisha Chaudhari starb mit 18 vor ein paar Tagen an den Folgen eines kombinierten Immundefekts (SCID), darunter Lungenfibrose, anscheinend die Folge einer OP, wie sie woanders einmal sagte. Das bedeutet, die Lunge arbeitet nur mit einem Bruchteil der vollen Kapazität. Der Rest ist zu verhärtet. Immundefekt heisst nichts anderes, als dass das Immunsystem schädliche Einflüsse von aussen wenig oder gar nicht kompensieren kann. Kombiniert man beides, kann man sagen: Ein harmloser Schnupfen kann tödlich sein und jeder Atemzug ist ein Kampf.

Der talk und die Klischees

Aisha wurde durch einen tedx talk einem grösseren Publikum bekannt. Er läuft unter dem Stichwort "inspirierend". Hier die Quelle:


Eines der Dinge, die mir daran gefällt, ist, dass nicht um diese klischeehaften "Mein-Chef-ist-so-arrogant-aber-dann-habe-ich-herausgefunden-dass-er-gerade-in-einer-furchtbaren-Scheidung-steckt-und-es-war-nur-mein-Glaubenssatz-der-so-negativ-war"-Beispiele geht, wie es so oft in Beiträgen aus der Abteilung life-coaching, Esoterik, NLP etc. im Internet passiert.

Aishas Probleme sind statt dessen mehr als gravierend. Aisha ist (weil muss) "in einer ganz anderen Liga" als das, was man sonst von den life-Beratern so vorgesetzt bekommt.

Ich finde auch ihre unaufgeregte, unaufdringliche Art ansprechend. Doch zurück zum Inhalt. Er führt leider nach einem guten Auftakt in die altbekannten Klischees:
  • "just giving up things can always be worse pushes me on my feet. I could have easily been born in a family that wasn´t as loving and caring as my own"
  • "there are children out there that are much less fortunate out there than I am"
  • "happiness can only come from acceptance"
  • "I accept who I am and I accept where I´m at. And I accept the challenges that I am batteling today"
Zunächst einmal: Wenn diese Dinge Aisha geholfen haben - und so ist es ja anscheinend -, ist nichts dagegen zu sagen. Die Crux aber ist: Wenn man meint, dass dies für andere ein Vorbild sein könnte, was bei den tedx talks ja unterschwellig beabsichtigt ist, dann klinke ich mich aus.

Warum ich mich ausklinke:

Zu oft habe ich erlebt, dass andere solche Reden wie die von Aisha als glaubenssatzähnliche Vorbild-Verpflichtung an Menchen, denen es schlecht geht, bewusst / unbewusst herantragen:
Schau dir xy an, ihr Leben ist überhaupt nicht einfach (gemeint ist: Sie hat es schwerer als du) und trotzdem lebt sie ihr Leben glücklich (gemeint ist: Schneide dir von ihr eine Scheibe ab).
So oft haben mir die Leute erzählt, dass es genau diese (unterschwelligen) Ansprüche sind, die, statt zu helfen, einfach nur mehr Druck ausüben und alles nur schwieriger machen.
"Schau, anderen geht es auch schlecht und trotzdem ... ."
Man kann diese Geisteshaltung auch prägnanter formulieren:
Anderen geht es noch schlechter, also reiss dich gefälligst am Riemen.
Ich sage nicht, dass das automatisch immer so ist, auch nicht, dass Aisha das beabsichtigt (das glaube ich nämlich nicht). Ich sage, dass solche "Glücklichsein-ist-eine-Einstellungssache-Sätze" sich allzu leicht als Produzent von Schuldgefühlen und Versagenszurteile bei Menschen entpuppen, die an einem anderen Punkt in ihrem Leiden stehen. Benutzt man solche "Glücklichsein-ist-eine-Einstellungssache-Sätze" sollte man um diese psychischen Mechanismen wissen.


Was Aisha von anderen trennt ist mehr als ihre körperliche Verfassung

Aisha war 17 zum Zeitpunkt ihres talks. Viele Ereignisse, Enttäuschungen, Schläge etc., die man im Leben erfährt, hat sie nie mitbekommen. Sie wurde anscheinend nie verraten von jemand, den sie liebte (teenager-Lieben nebs gebrochene Herzen meine ich nicht).

Sie hat nicht erlebt, dass das, woran sie glaubte (Liebe, Unterstützung, Gott, familiäre Zuwendung und Solidarität, die kleinen Freudenmomente, alles worauf sie bauen konnte in ihrer Krankheit), zusammenbricht und sich definitiv als Illusion entpuppt. Dies sind aber oft genau die Erfahrungen, die Menschen im Laufe eines längeren Lebens machen. Zusammen mit der Erfahrung, dass die eigene Energie nicht mehr das selbe Level hat wie mit 17.


Aisha hatte einen weiteren Vorteil:

Ihr Gehirn arbeitete anscheinend hinsichtlich der emotionalen Verarbeitung "normal". Sie konnte sich entscheiden, wie sie sich zu ihrer Situation verhalten wollte. Sagt sie zumindest.


Viele der Leute, die bei mir sind, sind nicht in dieser Lage. Depression überlässt dem Betroffenen keinen Entscheidungshoheit über den Gemütszustand, um nur ein Beispiel herauszugreifen.

Körperliche Gebrechen lassen einem die Psyche als coping-Quelle und Ressource. Viele emotionale, kognitive Erkrankungen dagegen nehmen einem diese Quelle. Man könnte sagen, dass damit psychische Störungen brutaler für den gesamten Organismus sind, aber solch ein gegenseitiges Ausspielen von Körper und Psyche widerstrebt mir.

Wer nun glaubt, ich mache Aisha schlecht, der missversteht hier etwas gründlich.

Denn die Tatsache, dass Aishas Ansichten nicht für alle, die leiden, etwas Wertvolles sein kann, ist keine Abwertung, sondern Normalität. Niemand ist für jeden hilfreich. Selbst Mahatma Ghandi war schlecht für eine Menge Leute (genauer gesagt für das ganze britische Impire). Es sind zwei völlig verschiedene Dinge.


Deshalb sehe ich Aisha nicht so pauschal als Vorbild, wie es der tedx talk unterschwellig mit seinem Etikett "inspirierend" tut. Das geht nämlich bei vielen überhaupt nicht.


Der Wert von Aishas talk liegt in Wirklichkeit woanders

Sie lebte ihr Leben nach seinen Möglichkeiten und hatte ihre Glücksmomente. Das ist Anlass, dass wir etwas aufrufen, was wir in der Regel wenig im Alltag fertigbringen. Ich beschreibe es einmal mit einem Pali-Wort, denn im Gegensatz zur westlichen Ehtik ist in den alten Schriften im Ostens das eine der wichtigen Tugenden, die trainiert werden:
Mudita / Mitfreude. 

Eine Gelegenheit zur Ethik

Gemeint ist, dass man sich selbstlos am Erfolg anderer freuen kann. Dass man ihnen ihr Glück gönnt.
Aisha bietet Gelegenheit, mudita / Mitfreude als Tugend zu kultivieren. Aishas Geschichte sollte Anlass sein, sich selber zu freuen. Denn hier hat ein junger Mensch sein Leben erfolgreich gelebt. Eine solche Fähigkeit, ehrliche Freude am Gelingen von anderen empfinden zu können, macht das eigene Leben fröhlicher. Wir können damit in uns den ethischen Menschen fördern, der in uns steckt.


Aishas Geschichte hat keine Moral und keinen Appell

Als moralische Aufforderung (schau, sie hats auch geschafft), als kongitiven popularpsychologischen Appell (du musst nur deine Einstellung ändern), als Vorbild, wie man das Leben zu nehmen hat ... wenn wir Aishas Geschichte so interpretieren, dann hat sie letztendlich keine bedeutende Wirkung im eigenen Leben. Ausser vielleicht:
"Schau hin, ja, toll, wie die das hinkriegt, da muss man den Hut davor ziehen."
Das aber nivelliert so ziemlich das Meiste an Aisha. Doch wenn wir so zuhören, dass in uns instinktiv Freude entsteht, anstatt Betroffenheit, einfach deshalb, weil Aisha Möglichkeiten zu einem glücklichen Leben hatte, dann entfaltet Aishas Leben und Tod eine weitaus wichtigere Wirkung. Wir selbst erleben in unserem persönlichen Leben eine wichtige nachhaltigere Veränderung.


Mudita steht für ein reicheres Leben als unser jetziges

Mudita, selbstlose Mitfreude - in Zeiten heftigen Verliebtseins haben wir sie meistens. Wenn auch nur gegenüber einem bestimmten Menschen. Dass man so etwas auch kultivieren und trainieren kann, ist den meisten hier noch fremd. Wer es aber tut, der ist gegen Anwandlungen von Neid, Gier, Opferdasein oder anderen grummeligen Gemütsverfassungen viel mehr gefeit als andere. Genau das meinte die vorherige Aussage, wir können in uns den ethischen Menschen fördern, der in uns steckt.

Warum reite ich als Therapeut jetzt auf Ethik herum?

Ganz einfach: Weil gelebte Ethik hilft, Leiden zu lindern. Und das ist mein Job als Therapeut.

Mudita hilft, gesund zu bleiben

Wir wissen unbestritten, das Stress, belastende Emotionen und deren negative Verarbeitung unser Immunsystem schwächt. Mudita ist demzufolge pyschologisch gesehen eine Kraftquelle. Sie ermöglicht, selber ein Leben in Freude zu leben. Die guten psychologischen Folgen dessen sind wissenschaftlich erwiesen.

Lassen wir deshalb Aisha Chaudharis Leben und Sterben ihre Würde. Als eine Möglichkeit, selbstlose Freude im eigenen Leben zu kultivieren, wirkt Aisha weitaus besser über ihren Tod hinaus, als es vage Worte wie "inspierierend" je sein können.


P.S.: Was mir am besten an ihrem talk gefällt, ist der Satz: "enjoy life. There is plenty much time for being dead."

Quellen 

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