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10. Dezember 2019

Empathie kann schädlich sein

Coaching und Empathie
Jetzt, da es auf Weihnachten zugeht, fällt mir in meiner Umgebung etwas auf:

Die für diese Jahreszeit übliche Betonung von Menschlichkeit und Nächstenliebe findet nicht statt. Das könnte ein Fortschritt sein. Warum?

Weil Empathie schädlich sein kann!



Manchmal werde ich angefragt, als Supervisor im sozialen Bereich. Dort gibt es nämlich oft Supervision als Standart und regelmässig. Es ist nicht so ganz mein Fall, denn meiner Meinung nach braucht man keine Supervision, wenn alles ok läuft. Die im sozialen Bereich Tätigen haben sie trotzdem. Na schön, auch Supervisoren müssen essen und daher Geld verdienen. So gesehen bin ich ok damit. Trotzdem komme ich von Coaching her und habe aus dieser Fachrichtung mehr Affinität, zielgerichtet mit Leuten zu arbeiten, als ich es oft im sozialen Bereich erlebt habe.

Problem
 Wenn dann Leute daraus zum Einzelcoaching kommen, dann stehe ich in der Regel vor einem Problem: Dier Klient, die Klientin will wissen, was sie tun soll und dann soll ich es am besten für sie tun. Ehrlich gesagt: Erstens, woher soll ich wissen, was sie tun soll? Ich stecke nicht in der Haut der Person; und zweitens bin ich nicht ihr Anwalt. Das muss ich erst einmal rüber bringen.



Nun ist diese Erwartung auch ein Stück weit verständlich, geht es doch meist um verzwickte unerfreuliche Situationen und gesundheitsschädigende Erfahrungen, oft verbunden mit rechtlichen Elementen, wie es eben oft auf der Arbeit vorkommt. Aber diese Infos sind holbar, es gibt genug Fachleute, bei denen man nachfragen kann. Jedoch stellt sich anschliessend immer die Frage: Was soll ich nach all den Infos nun tun? Jede Entscheidung hat Vor- und auch Nachteile. Da ist es am liebsten, jemand anders sagt, was sich tun soll.

Kennt jemand den Film "Mein linker Fuss"? Die Hauptfigur, gespielt von Daniel Day-Lewis, leidet  unter infantiler Zerebralparese. Alles, was er an seinem Körper bewegen kann, ist sein linker Fuss. Der Rest von ihm ist spastisch unkontrollierbar. Unabhängig davon ist sein Verstand voll da. Trotzdem ist so jemand auf Hilfe angewiesen.
Die Spannung im Film ergibt sich daraus, dass sein Vater ihm nicht helfen will. Es gibt da eine Szene, in der er sich mit seinem linken Fuß eine Treppe hochziehen muss. Alleine. Ohne Hilfe. Heftig oder?


Nun, das Ergebnis jedenfalls ist genau das, was Coaching (und was ich eigentlich auch im sozialen Bereich gerne sehen würde) will: autonome, eigenständige Menschen, die ihre Entscheidungen treffen und handeln. Was wäre gewesen, wenn der Vater im Film genau so gehandelt hätte, wie es im Alltag eigentlich eigeflüstert wird, er ihn also gewaschen, gefüttert und die Treppe hinaufgetragen hätte. Genau: Jemand, der im vollen Umfang auf Pflege angwiesen ist! Statt dessen zeigt Daniel Day-Lewis, wie die Figur langsam lernt, ein Leben unter der Überschrift Eigenständigkeit zu führen.

Die letzte Mail, die ich gestern bekam, war von einer Klientin aus em sozialen Bereich, die fragte, ob sie sich noch einen Tag mehr krankschreiben lassen soll oder nicht. Eigenständigkeit?
Eine andere guckte mich mit grossen Augen an und sagte, sie könne doch nicht, obwohl sie krank sei, ihrem Arbeitgeber schreiben, dass sie nicht komme. Ausserdem  könne sie mit dem PC nicht umgehen usw.

erlernte Hilflosigkeit
Erlernte Hilflosigkeit hat langfristige Folge,
die niemand sich wünscht!
Man kann hier natürlich Seligmanns Konzept von der "erlernten Hilflosigkeit" als Erklärung heranziehen und das trifft es auch ziemlich gut. Für die Praxis allerdings hilft nur eines: Keine Empathie, kein Mitleid, kein "oh je, wart, ich helf dir mal schnell."

All das ist unnütz und sogar kontraproduktiv. Es hält die Leute auf der Stufe, auf der sie sind, und die ist ja problematisch. Wer so handelt, nimmt den Menschen Entwicklungsmöglichkeiten. Was als Hilfsbereitschaft den Anschein hat, ist in Realität ein Kleinhalten der Leute.


Natürlich ist es netter, wenn einem die Dinge erledigt werden. Denn dann muss man sich nicht bewegen. Entwicklung findet jedoch nie in der Komfortzone statt. Wir lernen etwas von der Welt und vor allem auch über uns, wenn wir genau dort nachschauen, wo wir am wenigsten suchen wollen. Und so, wie man bildlich gesprochen jemanden durch Umarmung erdrosseln kann, kann man jemand mit Mitgefühl und Empathie zum Unselbstständigen machen.
Der kleine Ratschlag:
 Ich habe diese Unselbstständigkeit im sozialen Bereich oft erlebt. Tatsächlich sind, den Eindruck hatte ich gewonnen, viele Supervisionsthemen einfach lösbar, in dem man sagt:

"Hör auf zu erzählen, wie furchtbar es ist, du sitzt hier mit voller sozialer Absicherung und Pensionsansprüchen in einem Job. Stärke statt dessen deine Kompetenzen und dann krempel die Ärmel hoch. Stell dich hin, sagt, was du brauchst, warum es wichtig ist und setzt dich dafür ein. Kämpfe dafür!"


Eine Antwort, die natürlich niemand hören will. Aber dem Sinn nach wäre sie sehr hilfreich.
Meine Formulierungen bei den vorher erwähnten Beispielen waren immer sehr kurz:
  1. Ich weiss nicht, wie lang Sie sich krankschreiben lassen sollen, ich bin nicht Ihr Arzt. Das muss er und Sie entscheiden.
  2. Hier ist der PC. Da ist Word drauf. Schreiben Sie den Brief an Ihren Arbeitgeber jetzt.
Die nächsten zehn Minuten hörte ich dann im Fall 2, wie sie tippte und dabei wirklich ohne Unterbrechung vor sich hin jammerte: Oh je, oh je, oh je. Am Ende war der Brief fertig und ausgedruckt. Alles, während sie jammerte. Ich spendete noch ein Briefkuvert und das wars. Ich weiss noch, sie verliess die Praxis mit einem stolzen Lächeln.

Viele Leute verwechseln Empathie mit einem Weichspüler. Als Konsequenz beschleunigen sie die Unselbstständigkeit. Zusätzlich fühlt es sich aber gut an, denn hey: ich hab ja jemand Bedürftigen geholfen! Das ist die Falle, in der viele tappen.



Nun muss man ziemliche Nerven haben, wenn man wie im Film "Mein linker Fuss" seinen Sohn die Treppe hinaufkriechen lässt. Viele, gerade aus dem sozialen Bereich, sagen da: "So brutal will ich nicht sein." In Wirklichkeit sagen sie jedoch nur: "Ich will mich gut fühlen, auch auf Kosten der Selbstständigkeit meines Klienten."

Bildverzeichnis:

  • "Erlernte Hilflosigkeit hat langfristige Folge, die niemand sich wünscht!": Patrick Lienin / photocase.de
  • Der kleine Ratschlag": ©panthermedia.net / Nadja Blume
  • Coaching und Empathie: ©panthermedia.net / Kheng Kuan Toh 
  • Problem: ©panthermedia.net / silent47

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