29. Juni 2013

Familie ist heute schlimmer dran als unter Hitler? Eine Replique an Norbert Blüm

Norbert Sebastian Blüm (* 21. Juli 1935 in Rüs...
Norbert Sebastian Blüm (* 21. Juli 1935 in Rüsselsheim) ist ein ehemaliger deutscher Politiker (CDU) (Photo credit: Wikipedia)
Diesmal werde ich wütend. Wütend wegen so viel geballter Ignoranz. Es gibt viele Orte, in denen eine solche sitzen kann. Ein Ort ist der geistige Horizont alter Männer.

Ein Beispiel dafür ist ein  Beitrag von Norbert Blüm - genau: DER Norbert Blüm.
Im Beitrag geht es um Familie und wie sie heute gelebt wird. Und es geht natürlich um das, was bei alten Männern oft unterschwellig mitschwingt:
Früher war alles besser - mit der Familie, der Beziehung, den Kindern!



Familie ist schlimmer dran als unter Hitler???

Blüm schreibt, dass die Familie heute "möglicherweise" bedrohter ist als unter Robespierre, Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot. Denn damals ging man gewaltsam gegen Familie vor, heute wird sie von innen heraus ausgehöhlt: durch Funktionalisierung und Outsourcing der Teile, die eigentlich in die Familie gehören - seiner Ansicht nach.

Ehrlich gesagt, mein Eindruck, gerade auch durch meine Arbeit in der Paarberatung, ist: Da jammert ein altgewordener Mann, der die Welt nicht mehr versteht, weil sie sich eben weiter gedreht hat. Wann werden wir endlich von diesen gestrigen Weltanalysen erlöst?

Abgesehen davon: selbst wenn alles stimmen würde, was Norbert Blüm behauptet, würde ich es gegenüber einem Leben unter Robespierre, Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot vorziehen. 100%ig!

Der Reihe nach:

Lamento 1: Kinder

Kinder lassen sich auch außerhalb einer Ehe auf die Welt bringen. Die außereheliche Geburt lässt sich noch weiter treiben und durchperfektionieren. Der künstliche Mensch ist machbar, wie Ray Kurzweil in seinem Bestseller "Homo sapiens" kühn behauptet.Er ließe sich sogar nach den Produktionswünschen der Wirtschaft optimieren.
Eine kurze Erinnerung: Dass Kinder außerhalb der Ehe zur Welt kommen, ist so alt wie die Menschheit. Heute gibt es nur weniger gesetzliche Benachteiligungen als in vergangenen Zeiten. Es gibt auch weniger moralische Diskriminierung, wenngleich es natürlich immer Leute geben wird, die angesichts eines "Bankert" die Nase rümpfen.

Und dass versucht wird, Menschen manipulativ zu perfektionieren, ist ebenfalls keine Erfindung der heutigen Zeit. Man lese ein paar Mozart-Biographien, die darstellen, was der Vater mit dem kleinen Bub Amadeus gemacht hat.

Heute gibt es sicher vielfältigere manipulative Eingriffsmöglichkeiten. Aber das ist nicht das Problem. Die echte Gefahrenquellen sind die Vorstellungen in den Köpfen der Menschen, wie andere zu sein haben oder nicht!

Lamento 2: Erziehung

Die familiäre Erziehung, so hat sich in der Debatte über das Betreuungsgeld herausgestellt, gilt als überholt. So gesehen sind Eltern Dilettanten. Allein die professionelle Erziehung aller Kinder durch öffentliche Erziehungsanstalten wird als Voraussetzung für Chancengleichheit angegeben. Deshalb werden die Anstrengungen verstärkt, Kinder möglichst schon kurz nach der Geburt den Händen der Erziehungsexperten zu übergeben, um sie später ganztags schulisch zu "erfassen".

Leider findet Erziehung zu 90 Prozent nicht so statt, dass die weisen Eltern ihren Kindern Verhaltensregeln erklären und beibringen. Das ist nur der 10-prozentige Anteil am Erziehungsgeschehen.

Die anderen 90 Prozent Erziehung finden statt, wie die Eltern mit dem Postboten umgehen, wie sie streiten, wie sie ihre gegenseitige Wertschätzung zu Ausdruck bringen und wie sie mit Menschen umgehen, die nichts für sie tun können.

Dass ausgerechnet darüber jemand klagt, der einer Generation von Vätern angehört, die beim Thema Erziehung in der Familie größtenteils durch Abwesenheit geglänzt haben. Wie es Norbert Blüm damals bei sich gehalten hat, weiß ich nicht. Aber Politik ist kein 40-Stunden-Job. War seine Frau eigentlich auch 40 Stunden die Woche berufstätig?

Lamento 3: Die ständigen Beziehungswechsel

Ehen werden nicht auf Lebenszeit geschlossen, sondern nur noch, "bis etwas Besseres" kommt. Deshalb wandelt sich die dauerhafte Ehe "bis der Tod euch scheidet" in eine vorübergehende Lebensabschnittspartnerschaft mit relativ geringem Kündigungsschutz.
Tja, eine Gesellschaft,
  • in der Frauen überwiegend für die Arbeit am Herd erzogen werden, (Zitat: "ein Mädchen braucht keine große Berufsausbildung, sie heiratet ja sowieso")
  • wo Frauen kein eigenständiges Konto eröffnen konnten, 
  • wo der Ehemann zum Arbeitgeber seiner Frau sagen konnte: "Wissen Sie was, meine Frau vernachlässigt durch die Arbeit bei Ihnen ihrer Pflichten zu Hause, ab jetzt verbiete ich ihr, dass sie weiterhin arbeiten geht" ...
... das war wohl besser für den Familienzusammenhalt? Klar, wenn man Frauen zu Hause "ankettet", bleibt die Frau natürlich im Hause und die Familie zusammen. Natürlich! Bin ich zynisch? Ich hoffe schon!

Lamento 4: Heute denkt jeder nur an sich


Ehe ist im modernen Verständnis die Addition von zwei selbständigen Individuen, während sie im alten Sinn eine Gemeinschaft bildet, die mehr als die Summe ihrer Teile ist (Aristoteles).
Genau: Ehe beruht auf einer Liebesbeziehung von zwei Individuen. So soll es auch bleiben! Selbstverständlich ist sie immer mehr als die Summe ihrer Teile. Selbst eine nüchterne Arbeitsgemeinschaft ist mehr als die Summe ihrer Teile! Ein bisschen systemische Fortbildung täte gut!

Was Ihre Generation, Herr Blüm, übersehen hat:
Liebe kann es nur zwischen zwei Freiheiten geben. Nicht zwischen Menschen, von denen einer vom anderen existentiell abhängig ist.

Daraus folgt: Je mehr wir auf die Liebe Wert legen, desto mehr Freiheiten müssen wir für Männer und Frauen schaffen!

Gesamtresultat bei Norbert Blüm:

Geheiratet wird nur noch auf Zeit, Kinder werden vom Staat betreut - und der Gesetzgeber fördert das. Der neue, erfolgreiche Mensch wird nie und nirgends von der Liebe berührt. Damit verliert die Gesellschaft ihren Zusammenhalt.
Norbert Blüm ignoriert vollkommen, dass wir heute den (richtigen) Anspruch haben, dass Ehe und Familie nicht heißen kann, dass sich einer automatisch unterordnen muss. Wir möchten in einer Gesellschaft leben, in der wir die Wahl haben, wie wir es gestalten und wie wir Arbeit und Familie unter einen Hut bringen.

Und es steht einer reichen Gesellschaft wie Deutschland, die für die Milliarden der EU-Rettungsschirme gerade stehen soll, sehr wohl an, diese Freiheit der Wahl ihren Mitbürgern zu gewährleisten.

Früher mussten man wirklich daran denken:
  • wenn ich mich trenne, dann reicht das Geld hinten und vorne nicht
  • wenn ich mich trenne, dann bin ich geächtet
  • wenn ich mich trenne, dann bedeutet das, dass ich bösartig, egoistisch bin oder ich bin ein Versager
Und solche ökonomischen, sozialen oder moralischen Feudaldenksysteme sollen heute noch Stütze des familiären und gesellschaftlichen Zusammenhalts sein? Das war schon damals mies!

Was alte Männer niemals sehen wollen:

Natürlich sind unsere Ansprüche gewachsen. Aber der Wunsch nach einem guten Partner, nach (sexueller) Treue und nach einem gemeinsamen Leben, ist stark bei den heutigen Paaren. Glaubt Herr Blüm wirklich, dass man heute eine Beziehung mit dem geistigen Horizont von 1970 durchs Leben tragen kann? Denn nichts anderes scheint er heutigen Paaren anbieten zu können?

Das Schwierige für jeden, nicht nur für alte Männer, ist einzusehen, wann ihre Zeit und ihre Ansichten vorüber sind.
Die Belastungen, die auf eine Familie heute zukommen, sind nicht wenige. Früher waren es auch nicht wenige. Nur gab es früher mehr geschlossene Weltbilder, in denen alles geregelt war ... und in denen Männer eine priviligierte Stellung gegenüber der Frau eingenommen haben. So gesehen können alte Männer zu Recht lamentieren: "Früher war alles besser" (für heutige alte Männer eben)

Aber diese Weltbilder haben ihre Dominanz verloren und gut ist´s so. Liebe gedeiht nur in Freiheit .... und nur in Gleichwertigkeit. Soweit jedenfalls der heutige Kenntnisstand. 

Wozu also soll eine Familie heute noch gut sein, wenn ihre Funktionen von anderen übernommen werden?

So war die Frage bei Norbert Blüm.
Die Antwort ist so simpel, dass sie schon primitiv ist:
Sie ist gut dafür, eine Liebe zu leben, die auch mehr Generationen mit einschließt. Die Liebe zwischen Erwachsenen ist der Kern der Familie, nicht Kinderaufzucht, Erziehung oder sonst etwas.
Familien von heute brauchen Ermutigung anstatt Lamenti, Herr Blüm.
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