Olympia hatte seinen shitstorm, verbunden mit dem Namen Annika Scheu auf Saint Boy. Saint Boy war ihr zugelostes Leih-Pferd im Fünfkampf und es ging nicht gut aus. Die Bilder gingen durchs world wide web und um die Welt und nein, sie sind nicht schön. Wenn wir jedoch nicht reflexhaft in die Empörungskultur mit einsteigen, könnte dieser Moment uns etwas mitteilen: über uns selbst.
Die Bilder zeigen eine verzweifelte und weinende Athletin auf einem äußerst irritierten Pferd, welches schon im vorherigen Ritt nervös auf der Bahn war und jetzt mit einer unbekannten Reiterin zurecht kommen sollte auf einem Turnier, das von Anspannung und Stresshormonen nur so dampft.
Sensible Fluchttiere sind in so einem Szenario nicht unbedingt die beste Zutat.
Leider, und das ist die Anfrage an unsere Weltsicht, werden hier Pferde eben nicht als das gesehen, was sie sind, sondern sie sind einfach teure Sportgeräte. Und wie jedes teure Sportgerät muss sich die Investition auszahlen. Wer sich einen sehr teuren Hometrainer anschafft, der erwartet schließlich, dass das Ding seinen Zweck erfüllt, TÜV geprüft und sicher ist. Man erwartet nicht, dass das Gerät nach den ersten Trainingsrunden kaputt ist.
Das instrumentelle Denken als Degradierung von Lebewesen
Diese Interpretation der Umwelt "als Instrument" hat eine lange Geschichte. Instrumentum ist lateinisch und heißt Werkzeug. Ein Werkzeug hat aber keinen Zweck an sich, sondern nur einen Verwendungszweck. Seine Verwendung ist sein Existenzrecht. Ist es unbrauchbar, ist es sinnlos geworden. Hier in Olympia zeigte sich diese Interpretation "als Instrument" als systemimmanent. Selbst neutrale Beobachter erwiesen sich in diesen Kategorien denkend. So bezeichnend und weltbekannt ist ja zum Beispiel der Kommentar des Reporters, als Saint Boy zum wiederholten Male ein Hindernis verweigerte: "Das Pferd funktioniert nicht."
Auch die Reaktion der Trainerin an Scheu, einfach "draufzuhauen" - gemeint ist mit der Gerte auf das Pferd - hat eine Schmählawine hervorgerufen, nach dem Motto, Tiere gehören nicht geschlagen, das sei brutal und alle anderen Ansichten, zum Beispiel, das Pferd spüre das nicht in dem Maße, wie es aussieht, seien Schönrednerei. Dagegen sprechen Leute, die selbst Reiter sind, eher davon, daß das noch die harmloseste Zufügung war. Schlimmer sei die Art, wie die Reiterin auf einem nervösen Pferd sitzt, das sich die Vorderbeine an Holzbalken mehrmals mit Wucht gestoßen hat und dort mehr Schmerzen hat, mit Panik kämpft und dessen Verwirrung durch die Verzweiflung der Reiterin und deren Reißen am Zügel noch mehr gesteigert wird.
Instrumentelles Denken umfasst alle, die da waren
Wir alle wissen, je höher der Druck,
je größer die Anspannung, je größer der Stress und je mehr auf dem
Spiel steht, desto schneller etabliert sich ein Tunnelblick und allzu
leicht entgleitet einem die Besonnenheit, die eine Lösung wohl
wahrscheinlicher machen würde. Genau das ist hier passiert. Für Scheu war es der Moment ihres Lebens. Wer auf Olympia-Niveau ist, hat sein Leben darauf abgestimmt. Der Druck der Situation kann man als Außenstehender gar nicht überschätzen. Und Scheu war schon die Gold-Medaillie sicher. Bis es dann zu Saint Boy kam. Verzweifelte Menschen greifen aber instinktiv zu verzweifelten Maßnahmen. Und so entstand Scheus Reaktion.
Pferde sind in diesem Sport definitiv Material und keine Partner. Aber auch die Zuschauer haben ihren Anteil. Sie begreifen genau wie auch die Entscheidungsträger in diesem Sport "Leistung" als ein Abstraktum, man betrachtet sie als das Ereignis, das zählt. Wer und wie es zustande kam, ist am Ende nicht entscheidend. Und damit ist Leistung als Endergebnis auch einigermaßen unabhängig davon, wie es zustande kam. Als Folge gerät der Leistungserbringer - hier das Pferd - zum Mittel zum Zweck. Der Erbringer der Leistung ist auch austauschbar. Unaustauschbar wird er ja nur dadurch, dass er eben genau diese erforderte Leistung erbringt. Ansonsten ist er mit einem besseren Leistungsträger ersetzbar und fällt zurück in die Kategorie "Kostenträger". Ein Instrument, das nicht funktioniert, wirft man weg, ein Pferd schläfert man ein. Letzteres geschieht zuweilen nach einem Wettkampf.
Instrumentelle Denken ist technokratisches Denken und entmenschlicht
Es ist nicht einmal eine anthropozentrische Sicht, mit der wir hier es zu tun haben, sondern es ist die Geisteshaltung einer Technokratie, die einen anorganischen Blick auf die Welt wirft. In der Technokratie gibt es keine entwickelte Ethik, die in Beziehungen denkt, sondern nur technische Lösungen. Das Spektrum im Reitsport reicht entsprechend vom kleinen Eingriffen bis hin zum Einschläfern. Alles technische Vorgehensweisen. Auch werden die Pferde nicht deswegen gut gepflegt, weil hier das Wohl des Lebewesens im Vordergrund steht, sondern ein zu messender Erfolg im Wettkampf, für den das Pferd eine Arbeitskraft ist.
All unsere Sichtweisen im Arbeitsleben beruht darauf
Diese Haltung ist generell im Wirtschaftsleben etabliert. Auch dort sind Mitarbeiter Leistungsträger, wenn sie nach den festgelegten Erfolgskriterien funktioinieren. Diesem Funktionieren ist alles unterworfen oder es wird weggeworfen. Die Industriealisierung war das perfekteste Beispiel dafür. Heute ist es unser Fokus auf "Wachstum" als Kernbestand unseres Wirtschaftssystems, der die Sichtweise von organischen Lebewesen als Instrumentum einfordert. Menschen sind hier nicht, man spricht lieber von "Arbeitskräften" oder "Humankapital", beides unpersönliche oder ent-menschlichte Bezeichnungen.
Selbst Arbeitsschutzgesetze werden, haben sie keinen Bestrafungscharakter, wenn sie nicht angewendet werden, mit dieser Funktionslogik beworben. Schließlich sind nur gesunde Mitarbeiter in der Lage, gute Leistung zu erbringen.
Auch der Urlaub hat in Deutschland rechtlich keinen humanen Zweck, sondern dient der Wiederherstellung der Arbeitskraft. Das technokratische Denken hat unser Arbeiten vollständig geprägt und uns längst so weit im Griff, daß ien Umdenken meist gar nicht aufkommt. Die Ereignisse in den olympischen Spielen könnten eine Erinnerung für uns sein, in Alternativen zu denken.
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