Militärisch ausgebildet, nationalsozialistisch assoziiert, kampferfahren und mitten in der Gesellschaft - was wir vom belgischen "Terroristen" Jürgen Conings lernen können. Ja, und das ist kein Clickbait.
Deutschland hatte erst vor kurzem wieder einen Messerstecher in Würzburg. Noch vor vier Jahren schlug jemand anders in einem Zug der Bahn mit einer Axt um sich, in Erfurt gab es eine weitere Messerattacke (siehe hier), wir kenn die Meldungen von Menschen, die an Weihnachtsmärkten mit dem Auto in die Menge rasten, vor fünf Jahres tötete in einem Münchner Einkaufszentrum ein Schütze junge Leute, weil die seiner Meinung nach nicht nach Deutschland gehörten ...
Die gefährlichste Meldung dieser Tage kam jedoch aus Belgien, wo ein ausgebildeter Scharfschütze und Soldat namens Jürgen Conings sich Munition, eine Maschinenpistole und vier Panzerfäuste geschnappt und einen belgischen Virologen gedroht hatte, ihn umzubringen.
Seit Mitte Mai war dann die Polizei, die Armee und sogar Interpol hinter ihm her (siehe hier), aber der Mann, der eine militärische Ausbildung durchlaufen und Einsätze in Afghanistan hinter sich hat, war nicht so leicht zu kriegen.
Der Fall ist nicht nur für die Sicherheitskräfte interessant, sondern zeigt uns rundherum das Versagen in einer modernen Gesellschaft auf mehreren Ebenen:
- Die Armee muss sich fragen lassen, wieso jemand, der vom eigenen Geheimdienst als Terrorist eingestuft wurde, erstens noch bei der eigenen Armee sein kann und
- zweitens, wieso er außerdem legal Zutritt zur Waffenkammer hat.
- Wieso kann die Verteidigungministerin im Verteidigungsausschuss behaupten, sie sei von der eigenen belgische Anti-Terror-Behörde informiert worden, dass ein Mitglied ihres Departements als terroristische Gefahr gehandelt wird.
- Und wieso hat so jemand wie Conings mit tiefen Verbindungen zur Neonazi-Szene spontan eine Unterstützergruppe auf Facebook mit 50 000 Mitgliedern?
Man könnte es auch kürzer fassen: Der demokratischen Boden, auf dem die belgische moderne Gesellschaft und ihre Vertreter stehen, ist in Teilen marode. Das ist beileibe kein belgisches Phänomen. Wir sehen es im Erstarken autoritärer Gestalten in der Politik auf beiden Seiten des Atlantiks genau so wie in der Wiederauferstehung mittelalterlicher Prangereinrichtungen im Gewand persönlichkeitsdiffamierender posts und shitstorms im WorldWideWeb.
Die Gesellschaft ist gespalten, sagen vielen und wie bei Monty Phytons "Das Leben des Brian" ist "Spalter" ein schnell proklamierter Vorwurf an Personen. Doch er übersieht, dass eine moderne Gesellschaft längst keine Spalter mehr braucht, weil Ausdifferenzierung zu ihrer Natur gehört.
Tatsächlich ist die Gesellschaft nicht gespalten, sie hat sich nur in immer mehr Zweige und Knospen verästelt. Differenzierung im Inneren ist ein natürlicher Bewältigungsmechanismus für die zunehmende Komplexität der Welt, heisst es in der Systemtheorie und Jürgen Habermas bemerkte einmal so treffend, dass in einer modernen Gesellschaft das Volk nur im Plural existiert.
Das bedeutet, dass die Unterschiede mehr Raum einnehmen und bubble-Bildungen leichter und unvermeidlicher werden. Je mehr davon entstehen, desto unmöglicher wird es jedoch, die Übersicht zu behalten. "Neue Unübersichtlichkeit" bezeichnete der Philosoph Jürgen Habermas vor Jahren die heutige Zeit. Die Konsequenzen daraus waren jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht komplett durchdacht. Denn mit Unübersichtlichkeit geht ein lebenswichtiges Bedürfnis von uns Menschen über Board: Orientierung. Wir alle brauchen sie. Ohne sie gibt es für uns keinen Maßstab, was gut oder schlecht ist, was sinnvoll ist oder unsinnig, wo mein Platz in der Gesellschaft ist, auf welcher Sprosse der sozialen Leiter ich mich befinde, ja überhaupt: Wer ich in diesem meinen Lebensraum überhaupt bin. Orientierung stellt sich durch Bezugspunkte ein, diese müssen sichtbar und klar ins Auge gefasst werden können, sonst verschwinden sie für uns. Unübersichtlichkeit ist das Elternteil der Orientierungslosigkeit und führt genau dazu.
Wer Menschen nun vorwirft, sie würden in ihrer Filterblase leben und nicht mehr über den eigenen Tellerrand hinausschauen, macht es sich sehr einfach. Denn einerseits ist es ein natürliches Verhalten, in einem unübersichtlichen Gelände den Blick nicht in die Ferne zu richten, sondern sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren.
Zum anderen fungiert die hochdifferenzierte Gesellschaft aus der Metaperspektive betrachtet nach dem Gefängnisprinzip: Sobald jemand aus seiner eigenen Zelle, die ihn umgibt, ausbricht, findet er sich statt in Freiheit, nur in der Nachbarszelle wieder. Verlässt man seine Filterblase, findet man sich nur in einer anderen wieder.
Es gibt, so beschrieb schon Lyotard in den 70er Jahren die Situation sehr treffend, kein übergreifendes Narrativ mehr, auf das sich die Menschen einigen. Viele frühere Gewissheiten sind passé. Feste Rollenverständnisse haben sich aufgelöst, fest verankerte und als bisher als natürlich geltende Geschlechterordnungen stehen zur Disposition, Hierarchien werden flacher, die Einstellung, dass eine Karriere der Familienzeit vorzuziehen ist, ist angezählt. Was früher normal war, gilt anderen heute als rassistisch und zieht Verurteilungen und Entwertung nach sich. Fremdheitserfahrungen nehmen zu.
Bisher einigende Institutionen wie Staat, Wirtschaft, Religion, Philosophie ... alle haben nicht nur ihre Bindungskraft, sondern auch ihre Überzeugungskraft eingebüßt, entpuppten sich schlimmer noch immer wieder als korrupt und verbrecherisch oder gleichgültig. Siehe die ständig bekannt werdenden Beispiele wie Nebenjobs von Politikern inklusive Lobbyismuskollaboration, Millionendeals mit Masken in der Pandemiezeit, flächendeckender Kindesmissbrauch bei sich selbst als moralisch betitelnde Institutionen, gepaart mit Unwillen bei der Aufklärung sowohl von Seiten der Täterorganisationen und als auch von Seiten des Rechtsstaates nebst Politik. Und was die Judikative bei den NSU-Morden zu Tage förderte - nach langer und verspäteter Zeit - ist ebenfalls kein Ruhmesblatt. Seit den 90ern erlebe ich Wirtschaftsführer, die ihren Arbeitern und Angestellten predigen, jeder sei ersetzbar und niemand, der jahrelang gute Arbeit geleistet hat, braucht daraus einen Verdienst ziehen. Zusammenhalt, von Wertschätzung ganz zu schweigen, sieht anders aus.
All das tut sein Schärflein dazu.
Beim Angreifer in Würzburg war lange schon bekannt, dass es Pobleme gibt. Eine psychiatrische Einrichtung wollte ihm einen Betreuer an die Seite geben. Der Richter urteilte, dass "keine ausreichenden Anhaltspunkte für das Erfordernis einer Betreuung
bestanden, zumal der Betroffene trotz mehrfacher Versuche nicht
angetroffen werden konnte.“ Das war zu einer Zeit, in der der Mann polizeibekannt war wegen psychischer Auffälligkeiten, tätlichen Bedrohungen gegenüber Mitmenschen und gefährlicher Köperverletzung.
Es besteht ein dysfunktionales System des Nicht-Wahrhabens, einer schlecht geölten Verwaltungaschinerie der bürokratischen Gleichgültigkeit und Perspektivlosigkeit, die Menschen psychisch in Gedankengefilden pushen, die ungut sind und sie anfällig machen für emotionale Ausbrüche, denen Taten folgen.
Das ist keine Entschuldigung, wohl aber die sichere Überzeugung, dass Gehässigkeit, Aggression und Wut nicht weggehen werden. Die damit verwandte Radikalisierung auch nicht. Denn sie bietet mit ihrem Fundament der sicheren Überzeugung genau das, was der modernen Gesellschaft fehlt: Orientierung und Perspektive.
Radikalisierung kann somit als ein Ausdruck des Überlebensinstinktes gesehen werden. Und was das eigene Überleben gefährdet, muss eliminiert werden. Fressen oder gefressen werden, Radikalisierung lebt in Nachbarschaft vom Sozialdarwinismus. Ob man anschließend das Gefährliche mit "Rasse", "Ethnie", "Volk", "die da oben", "Bevölkerungsaustausch", "Coronadiktatur", "Geldadel", "Mainstream" etc. zusammendenkt, ist nur mehr der individuelle Charakter der jeweiligen Filterblase. Deren Inhalte sind austauschbar, wenngleich sie entsprechend unterschiedliche Folgen zeitigen, aber die Denkmuster die selben.
Jürgen Conings wurde gefunden. Tot. Anscheinend Suizid. Seine
Akte ist damit geschlossen. Irgendjemand soll von der Leiche Fotos gemacht, sie ins Netz gestellt und womöglich auch verkauft haben. Verwerfungen des modernen Systems machen eben auch nicht vor Toten halt. Der Fall Jürgen Conings lehrt uns die Mischung von Gestaltungsversagen der Politik, mehrerer im Leerlauf drehender Behörden und unterschwellige Gewaltbereitschaft, die sich in einzelnen oder deren Sympathisanten weiter manifestiert. Wird es zu Konsequenzen führen? Ich befürchte: nein. München braucht Jahre, um nichts zu tun. Dann entschied man sich, bevor man was tut, braucht man eine Studie. Inzwischen verzeichnet allein im letzten Jahr die Münchner Polizei unter der Rubrik Hasskriminalität 426 Fälle inklusive 63 Gewalttaten. Dass Gewalt von politisch rechter Seite ein Problem darstellt, hat Horst Seehofer et al. erst zugegeben, als ein Politiker erschossen wurde.
Die Gesellschaft verästelt sich inzwischen weiter. Die Entwicklung plus Verwerfungen gehen weiter. Wir sehen zu, machen aber nichts. Im Zweifelsfall kürzen wir wohl die Unterstützung.
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