1. Juni 2021

Seilbahnunglück am Lago Maggiore - dahinter steckt System

Eigentlich gelten Seilbahnen nach Flugzeugen als die sichersten Transportmitteln der Welt. Doch dort am Lago Maggiore gab es 14 Tote, drei Festnahmen und Untersuchungshaft. Und es erhärten sich die Indizien für eine systematische Manipulation. War Profitgier im Spiel? Die Wahrheit ist etwas komplexer. Eine systemische Analyse:


Ein CAVEAT voraus: Ich bin kein Kriminaler und ich diagnostiziere hier auch nicht. Ich spektakuliere, auf was man bei einem solchen Fall psychologisch wohl stossen würde, wenn man ihn untersucht. Ich nutze dabei die systemische Sichtweise.

 

Ein paar Tatsachen

Die Seilbahn war zwischen dem Ort Stresa am Westufer des Lago Maggiore und dem Monte Mottarone unterwegs als sie abstürzte. Es passierte etwas, was es eigentlich nicht gibt: das Zugseil ist gerissen. Was eigentlich kein Problem ist, denn das Tragseil ist immer noch da und die Bremsen greifen, falls das Zugseil die Gondel nicht mehr befördern kann, automatisch. Das ist ein mechanischer Mechanismus, also keine anfällige und durch Witterung zu beeinträchtigende Elektronik. Stromausfall - egal, Funkloch - Wurst. Mechanik kümmert sich nicht um so etwas. 

 

Erste Untersuchungsergebnisse

Nach den ersten Untersuchungen stellte sich heraus, dass die mechanische Bremse auf mechanische Weise ausgeschaltet war - eine Klammer verhinderte, dass die Bremse zugreifen konnte. Angeblich löste sich die Bremse seit einiger Zeit immer wieder von selber aus und brachte die Gondel ohne Grund zu stehen.
Was dann folgte, was immer sehr aufwendig: Ein Mitarbeiter musste den Berg hinauf auf Höhe der Gondel, dort auf die Masten steigen und die Bremde händisch lösen. Alles eine Sache von mehreren Stunden, in denen die Passagiere ausharren mussten und der Betrieb stillstand - und Geld verlor.

Als "Lösung" wurde nun anscheinend die Bremse mechanisch deaktiviert.

Jetzt ist es so: Mechanik ist immer wartungsbedürftig. Ständig rutscht irgendwas, immer wieder klemmt etwas oder greift nicht genau ineinander  ... die Ursachen sind vielfältig: Abnutzung, Altersbedingtheit, Fremdstoffe sind ins Getriebe geraten ... . Jedenfalls ist da immer etwas zu tun.

Wer tut nun was? Nun, bestenfalls sind es Techniker / Ingenieure, also Leute, die sich mit solchen Systemen auskennen. Und jetzt kommen wir zum System!

 

Das System dahinter

Es ist nämlich nicht so relevant, wie das System "Seilbahn" funktioniert, sondern wie das "System Betreiber" funktioniert. Wir werden sehen, beides läuft nach unterschiedlichen Regeln ab.

Seilbahn ist ein technisches-mechanisches System. Die Wartungsleute und Ingenieure sind technisch Denkende. Subsumieren wir sie beide also einmal unter dem Begriff "technisches System".

Die Betreiber, als die Geschäftsführung / Inhaber / Betreiberfirma ist dagegen kein technisches System, sondern ein wirtschaftliches. Die Menschen in diesem System haben die Aufgabe, dass der ökonomische Kreislauf funktioniert, das heisst, sie müssen für eine Balance zwischen Ausgaben und Einnahmen sorgen. Denn jedes Unternehmen - egal ob staatlich oder privatwirtschaftlich geführt - muss Geld verdienen, um die Ausgaben zu decken. Und die Menschen darin wollen auch, dass der Betrieb funktioniert, denn auf diese Weise verdienen sie ihr Geld. Die Alternative zu einem jeden funktionierenden Betrieb ist schliesslich Arbeitslosigkeit. Und die will keiner für sein Leben. Also muss der Betrieb am Laufen gehalten werden.

 

Systemkonflikte als Treiber

Schon hier zeichnen sich zwei unterschiedliche Ziele zwischen dem "technischen System" und dem "wirtschaftlichen System" ab. Sie können Hand in Hand gehen, doch sich auch widersprechen. Und jetzt kommt das Interessante: Keine Technik setzt sich durch, wenn sie nicht  auch wirtschaftlich funktioniert. Anders ausgedrückt: Eine Technik, die mehr kostet als sie nützt, wird nicht überleben. 

Egal, um welche Technik es sich handelt. Sobald ein "Wirtschaftssystem" erkennt, das kommt uns zu teuer, wird es abbrechen. So weit, so logisch, so rational. Aber auch können wir ahnen, dass sich hier Konflikte mit großen Druck anbahnen.


Corona als Treiber

Jetzt kommt noch dazu, dass coronabedingt unser "technisch-wirtschaftliches System Seilbahn" längere Zeit ausser Betrieb gesetzt wurde. Ein langer Stillstand jedoch tut keinem mechanischen System gut. Selbst ein Auto muss immer wieder bewegt werden, um nicht Schaden zu nehmen. Und um den Druck noch weiter zu erhöhen, nimmt natürlich die wirtschaftliche Seite des System immensen Schaden. Denn was nützt es, wenn die Technik funktioniert, aber der Betreiber pleite ist?  Wir erinnern uns: Technik dominiert nicht die Wirtschaftsentscheidung, sondern umgekehrt.

 

Die Entscheidung systemisch betrachtet

Als "wirtschaftliches System" steht man nun vor der Entscheidung. Es müssen dringend Einnahmen kreiert werden. Ja, die Technik macht Probleme, aber ausser, dass die Gondel stehen geblieben ist, war bisher nichts. Angesichts der Lage jedoch können wir und das nicht gut leisten. Also: Fahren oder nicht fahren?

Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie in Geldnot sind? Denken Sie mal als Unternehmer. Es schützt Sie keine Privatinsolvenz, sie verspielen womöglich ihre gesamte Zukunft, denn wir sind nicht in Amerika. Dort ist Pleitegehen kein Makel, bei dem einem die Türen in Zukunft zugeschlagen werden. Hier schon.

Zudem wissen Sie von der Technik, dass ein Zugseil nicht reissen kann. Noch nie ist auf der ganzen Welt ein Zugseil gerissen. Das Ding ist so konstruiert, dass es nicht reisst. Und das ist die Wahrheit. Wie hoch ist also wirklich das Risiko? Mathematisch und rational betrachtet sehr gering. Und nun?

 

Das Ende

Wir wissen, wie es ausging. Allerdings wissen wir auch, dass sich die Suche nach einem Verantwortlichen anscheinend schwierig gestaltet. Zwei der drei Festgenommenen sind schon wieder frei aus Mangel an Beweisen. Allerdings scheint es sich auch zu erweisen, dass die Bemse schon vor Jahren - also vor Corona -  mechanisch ausgeschaltet worden ist. Also doch Geldgier oder nur ein weiteres Argument: Siehst du, all die Jahre ist nie etas passiert, die Seile sind zuverlässig. So ganz nach dem Motto: Ich fahre seit Jahren unfallfrei, also rechne ich auch damit, dass ich morgen unfallfrei fahre.


Warum Moral oft falsch liegt

Geldgier ist immer schnell ein Erklärung. Aber es verkennt die Tatsache, dass man es hier mit einem komplexen System zu tun hat, das auf vielfache Weise auf die Beteiligten einwirkt, anstatt dass es sich um Charakterschwäche handelt.
Zudem kennt das moralische Beurteilen nur eine einzige Massnahmen: zu diskreditieren und abzuwerten, oft mit der Hoffnung verbunden, dass sich die Betroffenen aus Scham und Zerknirschung ändern. Allein die Psychologie kann zeigen: Statt Scham und Veränderung geschieht Vermeidung und Abwehr. also eine Veränderung in genau eine andere Richtung als die gewünschte.

Auch ist klar, dass selbst wenn man nun Schuldige ausmacht und sie austauscht, die Neuen wieder so handeln, wenn man nicht die Strukturen des Systems ändert. Denn wir alle handeln nach den Leitlinien, die uns das System, in dem wir sind, vorgeben.
Sind wir Arbeitnehmer, handeln wir auch so. Sind wir Ehepartner - ein anderes System -  handeln wir dementsprechend. In unserem System "Urlaub" sind wir wieder anders als im System "Betrieb". Was in dem einen System gut ist, ist für das andere schlecht. Wir haben weiter oben schon erkannt, dass es sich bei der Seilbahn um verschiedene System handelt, die miteinander in Konflikt liegen können. Jetzt haben 14 Menschen dafür mit ihrem Leben dafür bezahlt.

Keine Kommentare :

Kommentar veröffentlichen

linkwithin

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...

linkwithin

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...