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31. Dezember 2020

Die Zukunft nach Corona oder: Vergangenheit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war

Die Zukunft nach Corona
Matthias Horx hat einen äusserst beachteten Artikel über die Welt nach Corona geschrieben. Horx ist Zukuntsforscher. Der Artikel ist aus der Sicht von Futur II geschrieben, also so, wie jemand aus der Zukunft auf unsere Gegenwart als seine Vergangenheit zurückblickt. Er wendet das, laut eigener Aussage auch in Unternehmen als Methode an für deren Weiterentwicklung. 

Von Seiten der Psychologie gibt es allerdings Einwände bei einigen seiner Aussagen.

 

Zuerst ein Caveat: Das Folgende ist kein Zynismus und auch ist keine Kritik an Horx. Es sind meine 20 Prozent Skepsis an seinen Prognosen, einmal deswegen, weil 10 Prozent von mir immer skeptisch sind und sagen, es kann durchaus anders kommen. Und weil weitere 10 Prozent von mir sagen, laut meiner beruflichen Erfahrung sind die Menschen auch anders als Horx das sieht. Aber legen wir los:

Horx statement:

"Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. ... Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst."

Anmerkung: 

Teils, teils. Für bestimmte Leute mit bestimmten Berufen hat sich ein Lockdown wirklich entspannend angefühlt. In Frankfurt ging mit dem homeoffice die Suizidrate runter. Betriebspsychologen sagten schmunzelnd, dass läge wohl daran, dass die Leute nicht mehr den Schikanen und Launen der Vorgesetzen direkt ausgeliefert seien (Faktum ist leider, dass es tatsächlich zahlreiche Studien gibt, die Vorgesetzte als Quelle vieler betrieblicher Problemen nachweisen).

Wie auch immer, dass Leute näher zusammengerückt sind, um das social distancing zu kompensieren, ist nicht verwunderlich. Allerdings impliziert das nichts weiter. Eine Pandemie löst keine Konfliktlösungen aus, es verschiebt sie nur. Psychologische Mechanismen wie jahrelange Habituation führen Menschen nach Ausnahmenzuständen wieder zurück in alte Gleise. Wer einmal versucht hat, sein Leben zu ändern, weiß, wovon ich rede.

Horx statement: 

"Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an. Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fussballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist."

 

Anmerkung:

Zweimal nein. Wir Deutschen sind für vieles auf der Welt geschätzt, höfliche Umgangformen gehören allerdings nicht dazu. Noch nie. Schon Goethe schrieb in seinem Faust: "Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist." Oder wie mir ein Amerikaner einmal auf meine Frage antwortete, wo sehe er denn den wichtigsten Unterschied zwischen deutscher und amerikanischer Mentalität: "Wir Amerikaner verwechseln Höflichkeit nicht mit Charakterschwäche."

Und hinsichtlich der Fussballstadien: Da wird sich das Benehmen ebenso wieder auf das einpendeln, was schon da war. Siehe "Habituation" und einer "Jetzt-erst-recht"-Attitüde.

Horx statement:

"Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivial-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert. Kann sich jemand noch an den Political-Correctness-Streit erinnern? Die unendlich vielen Kulturkriege um … ja um was ging da eigentlich?"

Anmerkung:

Nichts Neues und einmal "Nein". RealityShows warens schon vor Corona peinlich, erfüllten aber eine wichtige sozialepsychologische Funktion: Mit den dort als Trash vorgeführten Protagonisten konnten die Konsumenten ihr eigenes Selbstbild erhöhen (psychologisch spricht man hier von der Theorie des sozialen Vergleichs). Das Bedürfnis wird auch nach Corona so bleiben. Warum? Weil der Wunsch nach Bestätigung des eigenen Wertes zur Psyche gehört, wie die Nässe zum Wasser.

Political-Correctness wird vor allem bei den öffentlich-rechtlichen Institutionen wie die "Schluckauf-Sprache" mit dem abgehackten "Innen" gepflegt werden. Im normalen Alltag werden die Leute den Kopf darüber schütteln und die Vorwürfe und gegenseitigen Entwertungen der pro- als auch der Contra-Seite werden weitergehen.

Horx statement:

"Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out. Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hielt sich, nach einem kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen."

 

Anmerkung:

"Ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur meine Erfahrungen", resümmierte Oscar Wilde und so ist es mit Zynismus wie mit Jazz: Für den Grossteil der Gesellschaft mag er out sein, es wird ihn aber immer geben. Und die Übertreibungs-Angst-Hysterie geht nur so lange zurück, bis das nächste Ereignis kommt, vor dem man sich fürchten soll. Wie wäre es mit der Handelsdominanz von China? Ist vielleicht zu unspektakulär. Naturkatastrophen wäre da geeigneter.

Horx statement:

"Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung. Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?"

Anmerkung:

So schnell wird Silicon Valley nicht das Feld räumen. Tech-Companies wie Tesla und Konsorten sind viel zu tief bereits in den Strukturen der Gesellschaft als dass die Technikbetonung gross zurückgehen wird. Es ist ein bisschen so wie mit den Smartphones. Man diskutiert wahrscheinlich viel über die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, aber eines wird nicht passieren: Dass die Gesellschaft es sich leisten kann, die Entwicklung zurückzudrängen. Die humanen Fragen werden bleiben, die Antworten darauf findet die Gesellschaft aber autark. Und sie werden so gut wie defizitär sein wie all die bisherigen Antworten, die die Gesellschaft in den vergangenen Jahrhunderten auf diese Fragen gefunden hat.

Horx statemenet:

"Wir staunen rückwärts, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist."
 
 
 

Anmerkung:

Humor und Mitmenschlichkeit sind entstanden, aber ohne Nachhaltigkeit. Ähnlich wie das Beklatschen der Ankunft der Flüchtlinge am Münchner Bahnhof als Fanal einer Öffentlichkeit, von der nach 12 Monaten nichts mehr geblieben ist. Schon in der zweiten Welle der Pandemie im Herbst 2020 gingen die Angebote, für den Nachbarn, der zur Risikogruppe gehörte, einzukaufen, rapide zurück. Stattdessen wurde das Geschrei à la "Maskentragen ist gleich Diktatur" und "ich fühle mich wie unter Nazigesetzen" lauter.

Horx statement:

"Heute im Herbst, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion ... hat sich überlebt. ... Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance."

Anmerkung: 

In einem Vortrag sagte Horx einmal, dass jeder grosse Trend auch einen Gegentrend hervorrufe. Entsprechend sehe ich auch, dass das Lokale längst vor Corona schon einen Bedeutungszuwachs erfahren hat. Auch das Handwerk war nie weg. Wer schon mal einen Handwerker brauchte, der stiess auf eine oft monatelange Warteliste wegen voller Auftragsbücher verdammt hohen Rechnungen an Ende bei gleichzeitiger Jammerei des Handwerks, dass es ihnen so schlecht ginge. Daran wird sich auch nach Corona nichts ändern.
Warum? Weil sich bei anderen Krisen der letzen 30 Jahre daran auch nichts geändert hat. Entsprechend wird jedes Unternehmen weiterhin seine Kosten zu drücken versuchen. Lagerbestände, Depots, Zwischenlagen sind aber weiterhin Verteuerungstreiber.

Horx statement:

"Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten."

Anmerkung:

Für Otto Normalverbraucher galt das immer schon, nur eine Minderheit von Deutschen hat Anlagen an der Börse. Man sagt, dass Vermögen in der Krise gemacht werden. Denn Profis wissen die Marktsituation zu nutzen und investieren entsprechend und bauen so ihren Einfluss aus. So wie auch ausserhalb der Finanzwirtschaft. Für Otto Normalverbraucher dagegen war gute Nachbarschaft seit jeher wichtiger. Er hatte ja auch nicht den Einfluss, sich an der Börse zu tummeln oder viel andere Möglichkeiten. Und Gemüsegarten waren schon vorher für einen bestimmten Teil der Bevölkerung attraktiv.

Schlussbemerkung:

Noch einmal: Das alles ist weder Zynismus noch Besserwisserei. Denn niemand weiss, wie die Zukunft aussieht. Niemand hat auch Corona vorhergesehen. Doch mir erscheinen Horx Szenarien zu wenig die vergangenen menschlichen Reaktionen in Betracht zu ziehen. Denn in der Psychologie gibt es einen empirisch sehr gut erhärteten Massstab für die Vorhersage von Verhalten:

Wie sich Menschen in Zukunft bei bestimmten Dingen verhalten werden, lässt sich mit hervorragender Wahrscheinlichkeit daran ablesen, wie sie sich in der Vergangenheit bei den bestimmten Dingen verhalten haben.

So gesehen liegt mir der Komiker Karl Valentin näher mit seinem Resümee: Die Vergangenehit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Quelle:

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