8. August 2020

Hilferuf: Suizid!

Tönnies und seine Arbeitsbedingungen fielen erst ins Gewicht, als ein Bedrohngsszenario für die Einheimischen nebst Politikern entstand. Die einen wegen ihrer Gesundheit, die anderen wegen ihres Rückhalts in der Bevölkerung. Tatsächlich sind ausbeuterische Verhältnisse in der Wirtschaft genau so lange bekannt, wie sie mit Achselzucken ignoriert werden. Überall sterben Menschen wegen der Arbeit und wegen der Art, wie diese Arbeit organisiert wird.

Und nein, ich rede nicht von den Sweat Shops oder den sklavenähnlichen Niedrigexistenzen in den Produktionsstätten dieser Welt. Ich rede von einer der Branchen mit Multimillionen Umsatz in hochtechnisierten Top-Ländern.


Es war das große Thema des letzten Jahres: der selbstgewählte Tod von Sulli und Goo Hara. Wer die beiden nicht kennt: Es sind große Stars, K-Pop-Sänger (K-Pop steht für Korean Popular Music und ist seit den 90ern ein äusserst erfolgreiches Genre).

Sie starb mit 28

Goo Hara war 28, als sie ihrem Leben ein Ende setzte. Schon einmal, im Frühlingsmonat März 2019, hatte sie es versucht. Da wurde sie mit einem heimlich aufgenommenen Sexvideo von ihrem Ex-Freund erpresst. Goo Hara brachte die Sache vor Gericht und ihr Ex-Freund Choi bekam 18 Monate auf Bewährung. Zugleich brach die Zusammenarbeit mit ihrer Agentur zusammen.

Manche mögen sagen, dies alles sei kein Grund für einen Suizidversuch. Die Antwort darauf wäre: Sie kennen die koreanische Gesellschaft nicht. Sie kann mehr als ungemütlich werden, wenn etwas ihrer Weltsicht nicht entspricht.

Tod folgt Tod

Ein Lichtblick für Goo Hara war die neue Plattenfirma, mit der sie zu einem populären Gast in Talkshows aufstieg. Auch eine neue Single kam heraus. Leider erfolgte eine neue Tragödie: Der Suizid ihrer Freundin und Sängerin Sulli.

Sulli hatte sich bitter beklagt über die Trolle im Internet, die sie mit einer Hetzkampagne sondersgleichen überzogen, wegen ihrer feministischen Anti-BH-Kampagne. Wie gesagt, die Gesellschaft kann mehr als ungemütlich werden, wenn etwas ihrer Weltsicht nicht entspricht. Sulli zahlte den höchsten Preis.

Allein gelassen

Goo Hara versuchte in dieser Situation, soziale Kontakte aufzubauen und Unterstützung zu finden. Auf Instagram schrieb sie über ihre Depression und ihr Leiden. Doch statt Unterstützung rollte eine Lawine aus Gerüchten über sie hinweg.
Mir hat sich ein post von ihr auf Instagramm in die Seele gebrannt:

 

"Ist da niemand mit einer schönen Seele, der Menschen annehmen kann, die leiden?"

 

 

Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit stösst auf Ignoranz.

Wo war ihre Agentur, ihr Plattenfirma? Wenn schon nicht die Freunde oder Familie helfen, dann sollte doch wenigsten, und sei es nur aus kapitalistischen Eigennutz, ihre Agentur auf der Matte stehen. Schliesslich sind die aus marketingtechnischen Gründen sehr am Image ihrer Künstler im Netz und bei Auftritten interessiert. Vor allem, weil man wusste, dass sie schon einmal wegen Suizid ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Gefahr war bekannt. Tatsächlich lag die Ignoranz näher.

 

Die letzte Nachricht

Es war ein Freitag, an dem Goo Hara über Instagramm für ihre Fans ein Bild teilte, auf dem sie in ihrer Wohnung bereits im Bett lag. Dazu schrieb sie nur "Gute Nacht". Zwei Tage später fand man sie in diesem Bett. Tot.

Alles keine Einzelfälle

Ich könnte weitermachen. Am 3. Dezember wurde der K-Pop-Star Cha In Ha aus der Band Surprise U tot aufgefunden. Südkorea hat insgesamt mitunter die höchste Suizidrate aufzuweisen. Die abgeschlossenen Verträge in diesem business sind unfair. Künstler werden jahrelang mit geringen Lohn, dafür mit riesen Arbeitspensum geknebelt, sagen Kritiker schon seit Jahren. Tanztrainings von 12 Stunden pro Tag und nur drei Stunden Schlaf sind in der Branche Alltag. Dazu Tourneen über sechs Monate mit fast jeden Abend ein Konzert. Zusätzlich noch Interviews, Talkshows, Werbung ... . Und immer die absolute Verpflichtung, dem Schönheitsideal hinterherzulaufen. Schönheitsops sind übrigens ebenfalls normaler Alltag geworden. Sonst ist dieses Ideal gar nicht mehr zu erreichen.

Das Wort Perfektion hat hier einen äusserst hohen Stellenwert. Ging Sulli zum Beispiel ohne BH aus dem Haus, schlug ihr der Hass der Gesellschaft entgegen. Sprach sie offen darüber, wie sehr ihr das zusetzte, erntete sie Beschimpfungen.

Sulli und Goo Hara haben beide öffentlich gemacht, wie schlecht es ihnen ging. Kein Mensch interessierte sich dafür.

 

Und wir?

Jetzt gibt es auch in Korea verantwortungsvolle Menschen (und Firmen). Das ändert aber nichts am Gesamtergebnis. Meine Frage ist: wie steht es mit uns?

Wer kennt jemand, der verzweifelt ist oder mental zu ertrinken droht? Wer kann bei uns frei in der Firma sagen, es wird ihm / ihr zuviel ohne als Looser oder low performer angesehen oder subtile bis offensichtliche Ausgrenzung zu erfahren?
Für wen ist eine Auszeit, und sei es nur eine Babypause, kein Karrierekiller? Wie sehr gilt immer noch die Devise, viele Stunden am Tag in der Firma verbracht, ist gleichbedeutend mit viel Einsatz und viel Leistung? Wie viele werden tatsächlich auch nach Corona glauben, Mitarbeiter im Homeoffice sind verdächtig, die machen sich alle einen schlanken Fuss?

All diese Glaubensansichten sind mir in meiner Arbeit begegnet und begegnen mir immer noch. Als jemand, der zuweilen auf Mitarbeiterversammlungen und vor betrieblichen Gremien spricht, werde ich immer noch konfrontiert mit:

"Psychische Probleme sind Charakterschwäche und nur etwas für Schwache!"

"Nicht belastbar" ist der offizielle Terminus und es gemeint ist das berufliche Aus. Wie viel anders sind wir im Umgang?

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