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19. Juni 2017

Sexueller Missbrauch, das Versagen der Mütter und mein Zynismus

Über Gewalt und Erziehung habe ich schon einiges geschrieben. Betroffene sind immer wieder einmal in meiner Praxis. Nun gibt es ein öffentliches Ereignis zum Thema sexueller Missbrauch und Gewalt in der Erziehung.
 Es ist ein Zwischenbericht der Kommission für Aufbereitung von Kindesmissbrauch. Erschreckendes Ergebnis: ein kolletives "Versagen der Mütter" plus "Kindesmissbrauch nimmt in Deutschland zu".

Der Kabarettist Volker Pispers hat einmal eine Bühnennummer zum Thema Missbrauch mit ungefähr folgenden Worten eingeleitet: "Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss", sagen die Deutschen. Und deshalb hat das Wegschauen bei uns eine lange Tradition."

Daran erinnere ich mich, wenn es im Zwischenbericht heisst:

In den wenigsten Fällen haben die Mütter ihren Kindern geglaubt und sie vor weiterem Missbrauch geschützt. Hilfe von außerhalb der Familie erfahren Betroffene selten, weil die Familie, als Privatraum gesehen wird.


"Viele Mütter dulden Kindesmissbrauch" betitelte das die Süddeutsche. Der Link zum Nachlesen gibt es unten. Doch beim Lesen des offizellen statements der Studie kam mir ein Gedanke, der mich stutzig machte:

Die Nachricht, dass - zu diesem Zeitpunkt - für eine weitere fundierte Aufarbeitung durch die Komission von der Regierung nicht genug Geld bereitgestellt wurde, hat mich nicht überrascht. Stattdessen kam unwillkürlich der Gedanke, wären die Missbrauchsopfer Banken statt Menschen, wären die Gelder wohl innerhalb weniger Stunden da.

Woher kommt mein Zynismus?

Dinge wie Missbrauch lassen mich nicht zynisch werden. Ich kenne genug Länder innerhalb und ausserhalb Europas und überall ist es ein Problem, dass erwachsene Kinder missbrauchen: sexuell, emotional, geistig, körperlich. So war es seit Jahrhunderten und so geht es weiter. Diese Dinge existieren. Der Grund für meinen Zynismus ist ein anderer:

Zynisch werden lässt mich, dass trotz inzwischen erworbenem Wissen, dass dies nicht nur ein Verbrechen ist und was dieses Verbrechen in der Psyche und im weiteren Leben der Betroffenen anrichtet, die Entscheidungsträger, die dafür zuständig sind, wenig tun und sogar mit dem Minderwertigsten knausern, was es gibt: Geld für die Grundlagen zur Hilfe bereitzustellen. Es sind die selben Leute, die dann wieder über Wertegemeinschaft etc. reden.

Deutschland ist gewalttätig gegenüber Kindern

Wertet man die Statistik aus, so erlebte jeder Siebte in Deutschland während seiner Kindheit / Jugend sexuellen Missbrauch. Ich habe diese Studie selbst nicht gesehen. Deshalb keine Gewähr, ob die Zahlen richtig sind.

Aber nimmt man Wikipedias Bevölkerungsangabe für Deutschland als Ausgangspunkt (82.175.684 (31. Dezember 2015)), so kommt man auf eine Anzahl von Missbrauchsbetroffenen in Form einer Stadt, die drei mal so gross ist wie Berlin oder knapp acht mal so gross ist wie München.


Tatsache aber ist, dass wir eine Gewaltgeschichte haben, die bis heute reicht. Die Verantwortung dafür haben wir beim Thema sexuellen Missbrauch nicht übernommen. Eher dominieren irgendwelche medientauglichen Empörungs- und Beteuerungs-Statements. Es geht um den Effekt vor der Kamera, weniger um die Betroffenen.

Womöglich ist es dann kein Zufall, dass man sich über die Ereignisse in der Sylvesternacht in Köln noch heute hervorragend echauffieren können, bei diesem Thema sich aber nichts bewegt. Womöglich weil es sich hier ja um Deutsche handelt, die Deutschen etwas antun? Weil Kindesmisbrauch nicht so medientauglich ist? Weil es nicht zum Bild der von Flüchtlingen bedrohten Kultur des Abendlandes und armen deutschen Frauen als Opfer passt? Keine Ahnung.

Aufgrund meiner Erfahrung als Therapeut könnte ich, wollte ich meinen Zynismus pflegen, sagen, dass die abendländische Kultur nicht unbedingt erhaltenswert ist. Sie ist viel zu gewaltorientiert und hat grosse Toleranz für das Wegschauen um des eigenen Vorteils Willen.

Quellen:

  • hier der Süddeutsche-Artikel
  • Es sind Sichtungen aus den Interviews von Betroffenen, die am 14.6.17 in Berlin vorgestellt worden sind. Daten und Fakten gibt es hier
  • Die Zitate aus dem Zwischenbericht: hier
  • hier gibt es ein Video über die statistik, dass jeder siebte in Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erfahren hat

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