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22. August 2015

Angst: Warum wir uns gerne fürchten. Und wie wir unsere Ängste überwinden

Es gibt ihn, den wohlig empfundenen Schauer, der einem über den Rücken läuft. Die knarrende Türe, das hämische Gelächer im Nebel, unheimliche Geräusche im nächtlichen Moor, das sind die Zutaten einer guten Gruselgeschichte. Und wir Menschen gruseln uns einfach gerne. Es ist dieses “Gleich-passiert-was-Gefühl”, das uns fiebern lässt. Die Forscher nennen es Angstlust.
Angst ist ein Gefühl, das Leute mögen, wenn sie wissen, dass sie selbst nichts zu fürchten haben”
hat Alfred Hitchcock einmal gesagt. Woher kommt diese Art von Angst?

Ein frühes Trauma?

Nach dem ungarischen Psychologen Michael Balint liegt die Ursache in einem frühen Trauma, dem Zerbrechen einer vertrauensvollen Beziehung zur Umwelt, eine Beziehung, die vielleicht nie wirklich ausgebildet wurde, auch nicht im Mutterleib.

Deshalb versuche der Angstlustige einen Ersatz dafür zu bekommen. Etwas, das ihm Halt und Orientierung gibt, was ihn aber nicht nur das vermisste Geborgene spüren lässt, sondern auch die Erfahrung des Trennenden, Bedrohlichen und die Gefährlichkeit des Ungewissen.

So entsteht neben dem Ziel, sich geborgen zu fühlen, gleichzeitig die Zuwendung zur “freundlichen Weite” des Raumes, der gleichzeitig die Trennung vom Ziel darstellt und den man als Heimat auf der Reise dorthin wiedererkennt.
Alles sehr sehr psychoanalytisch, sehr abstrakt formuliert.

Im Alltagsverhalten erkennt man Leute mit Angstlust angeblich an zweierlei Verhalten:

Die einen sind die sogenannten Klammerer. Die anderen sind die “Spring- und Fliegfreudigen”. Also auf der einen Seite die Stubenhocker, Bausparer, Nestbauer und Schiffsschaukelbremser, auf der anderen Seite die Bungee- und Fallschirmspringer, Extremkletter und Schiffsschaukelüberschlagsschaukler.

Für mich ist das alles ziemlicher Quark

Als Therapeut, der auch Fallschirmspringer ist, wurde ich mit solchen Theorien natürlich persönlich durch andere - meist Kassentherapeuten oder Laienpsychologen mit einem süffisantem Grinsen im Gesicht - konfrontiert. Hier ein paar Punkte, an denen es für mich an der psychoanalytischen Sicht krankt:
  1. Die vorhin genannten Deutung wurde von denjenigen entwickelt und von anderen übernommen, die kaum zu den “Spring- und Fliegfreudigen” gehören. Was eigentlich wirklich, wie in meinem Fall, beim Fallschirmspringen in einem vorgeht und was einem immer wieder dort hinauf lockt, ist jemandem, der diese Erfahrung nicht hat, nicht wirklich zu kommunizieren. Es ist immer so, als würde man einem Tauben versuchen, Beethovens Neunte mathematisch zu beschreiben. Mathe kann generell wenig über die ERfahrung von Beethovens Musik aussagen. Ebenso die Leute, die nicht springen.
  2. Es geht beim Springen nicht um den Kick. Der Kick verfliegt nach einer bestimmten Anzahl von Sprüngen.

    "Das ist so, wie wenn du in dein Auto einsteigst und wegfährst”,

    sagte mir mein Ausbilder und genau das war es dann auch irgendwann. Aber das ist nicht in den Schädel eines Nicht-Springers und Psychologen hineinzukriegen.  Einem Autofahrer würde man auch kein frühkindliches Trauma und eine zerbrochene Beziehung zur Umwelt attestieren, bloss weil er Spaß am Autofahren hat. Beim Fallschirmspringen versagt jedoch anscheinend die Logik.
  3. Es geht beim Springen nicht um die Angst vor irgendwas. Es ist die Freude am Ausprobieren, die Neugier, wie es ist und die Abenteuerlust, die einem dazu bringt, andere Wege zu beschreiten. 
Es ist der angeborene Drang in uns Menschen, Grenzen zu überschreiten und sich dadurch weiter zu entwickeln.

Die Wahrheit ist:

Es ist:
  • der Schuss Wahnsinn, der in jedem gesunden Menschen steckt, der die Gebrüder Wright an ihren Traum vom Fliegen festhalten ließ.
  • der Motor hinter der Hartnäckigkeit eines Edisons, mit hunderten Drähten zu experimentieren, bis er den einen fand, der die Glühbirne ermöglichte.
  • der Aufnahmekraft des berühmten Mediziners und Mikrobiologen Robert Kochs, als er sich als Kind selbst Lesen und Schreiben beibrachte.
Es ist das Jenseitige, also das, was jenseits unserer normalen Möglichkeiten ist, ein Raum, in dem unsere bisherigen Bewältigungsmechanismen nicht mehr funktionieren. In dieser Situation kommt die Angst. Bis der Überlebenstrieb einsetzt und wir anfangen, uns durchzuschlagen. Da die alten Ideen nicht mehr greifen, ist das Gehirn gezwungen, Neues zu entwickeln. Daraus ergeben sich andere Aktivitäten. Und mit dem Umsetzen der neuen Handlungsmuster schwindet die Angst.

Die Angst ist kein Ergebnis eines Traumas. 

Die Angst kommt, weil wir begrenzte Wesen sind, die mit erstmal unbewältigbaren Situationen konfrontiert werden, nicht weil wir alle traumatisiert wurden. Die Angst ist Ausdruck unserer menschlichen Existenz und keine Traumafolge. Balints Spring- und Fliegtypen leben dies nur deutlicher als der mainstream. Dass ein gesellschaftlich gut situierter Wissenschaftlicher mit regelmäßigen Tagesabläufen und guten Pensionsansprüchen wenig mit solchen Menschen anfangen kann, ist nachzuvollziehen.
Um das zu erkennen, müsste man es selbst fühlen können. Das können aber Menschen mit Erfahrung aus bestenfalls zweiter Hand nicht.

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