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30. November 2013

Besessenheit und Hypnose, Medizin und Religion


Der Film „Requiem" vom Regisseur Hans-Christian Schmid bezieht sich auf eine wahre Begebenheit: den tragischen Fall einer damals 23 Jahre alte Pädagogikstudentin namens Anneliese Michel, deren Erkrankungen als von Teufel besessen interpretiert und entsprechend religiös mit dem Exorzismus behandelt wurde. Sie starb am 1. Juli 1976. Jegliche Nahrungsaufnahme hatte sie zuletzt verweigert. Hinter ihr lagen 76 Exorzismusrituale.

Es ist nicht nur meine Erfahrung und nicht nur auf diesen vergangenem Fall bezogen: So gute Seiten eine Religion in einer Gesellschaft haben kann, problematisch wird es, wenn Religionen auf konkrete medizinische Anliegen Antworten geben wollen. Gerade, wenn es eine Religion ist, die vom menschlichen Bewusstsein wenig versteht.



Nicht besessen, sondern krank

Anneliese Michel hatte psychiatrische Diagnosen:
  •  Epilepsie
  • Schizophrenie mit den Symptomen Wahnvorstellungen und Halluzinationen

Was das jetzt heißt

Letztere verunmöglichem es, einen objektiven Realitätsbezug herzustellen. Als Beispiel: Wenn Sie sich mit jemanden unterhalten, wissen Sie sehr genau, wer gerade etwas sagt, wann Sie sprechen und wann Ihr Gegenüber es tut. Ihr Gehirn trennt hier säuberlich die Eindrücke und sortiert sie automatisch. Bei einer Schizophrenie ist dies dem Gehirn nicht immer möglich. Es kann zum Beispiel nicht unterscheiden, ob jetzt Ihr Gegenüber spricht oder die Fensterbank schränk gegenüber.

Meine eigene Erfahrung

Als ich damals in einer Klinik mein Praktikum machte, kam ein verzweifelter Mensch mit Diagnose Schizophrenie aus der psychiatrischen Abteilung zu mir, völlig verstört und verängstigt und berichtete mir, heute früh, beim Zähneputzen, habe ihm die Zahnbürste befohlen, den Chefarzt umzubringen.
Auch wenn Sie jetzt beim Lesen kurz lachen - es sei Ihnen gegönnt, die Situation ist ziemlich schräg - für die Betroffenen ist ein solches Erleben (und es ist ein echtes Erleben) ziemlich beängstigend. Warten Sie nur ab bis es Ihnen ähnlich ergeht.

Es ist der Verdienst von Psychologie, Psychiatrie und Therapie ...

... viel zur Aufklärung von Besessenheitszuständen beigetragen zu haben. Wenn sich jemand mit Schaum vor dem Mund zu Boden wirft, Laute ausstößt und sich herumwälzt, so wird das heute nicht mit Besessenheit verwechselt. Der dahinter stehende Kurzschluss im Gehirn, das veränderte Atemverhalten, das für den Schaum verantwortlich ist, ist hervorragend belegt und untersucht.

Eine fiese Erkrankung mit Namen Temporallappenepilepsie. 

Sie wird nicht immer erkannt, auch von Ärzten nicht, weil sie so unterschiedliche und unberechenbare Verhaltensweisen auslöst. Es gibt Fälle, bei denen der Kranke aus heiteren Himmel eine Axt packte, drohend auf die Familie zuging, dann aus seinem Zustand erwachte und nicht wußte, was er eigentlich damit wollte, ja was überhaupt passiert war. Solche Symptome sind für Außenstehende nur sehr schwer bis gar nicht einzuordnen. Wenn er noch erwacht, bevor etwas Schlimmeres passiert, ist es noch gut. Es gibt aber Fälle, da war das nicht so. Wer das aus der Kinoperspektive miterleben will, dem sei hier Stephan Kings "Shining" empfohlen.

Die Anfälle können mit Geruchshalluzinationen einhergehen. Wenn dann jemand noch Schwefelgeruch hineininterpretiert, dann geht es in Menschen mit religiös geprägter Deutungshoheit ab wie in einer Geisterbahn.

Medizin und Therapie ist heute kein Fachgebiet der Religion mehr. Um so problematischer wird es, wenn Religion hier dennoch ihre Deutungen anbringt ohne ihre Grenzen zu kennen.
Ohne ein Elektro-Enzephalogramm (EEG), einer Computertomographie, die etwaige Krampfherde oder Tumore im Gehirn sichtbar machen, ist eine religiöse Deutung dieser Phänomene nicht sonderlich verantwortlich.

Besessenheit ist Dissoziation

Dissoziation nennt man eine Fähigkeit des Gehirn, einzelne Teile des Bewusstseins so abzuspalten, dass sie nicht mehr gänzlich oder auch gar nicht mehr wahrgenommen werden.

Als Therapeut, insbesondere Hypnotherapeut, sind einem dissoziative Bewusstseinszustände vertraut. Wenn Sie nach einem anstrengen Tag zu Hause ankommen und sich partout nicht mehr erinnern können, wie Sie ihr Auto durch den Verkehr gesteuert haben, dann haben Sie dissoziiert. Das ist nicht krankhaft und Sie sind auch nicht vom Teufel besessen. Auch bei Unfällen, Schicksalsschlägen und anderen Widerfahrnissen benutzt unser Gehirn die Fähigkeit zur Dissoziation. Es ist ein natürlicher Schutz gegen Überlastung.

Krankhaft wird es erst, ... 

... wenn sich diese Fähigkeit verselbständigt. Sogar so weit, dass sich die ganze Person des Betroffenen zu wandeln scheint: Eine andere Stimme, Stimmlage, ein anderer Charakter mit komplett anderer Weltanschauung und mit völlig neuen Verhaltensweisen.

Einer meiner Ausbilder erzählte von einem einzigen Fall in seiner Praxis: Ein Mann in den Dreißigern, schüchtern, zurückhaltend aber ziemlich energielos. Das Vorgespräch verlief völlig normal, die Einleitung der Hypnose ebenfalls, doch als es dann tiefer als gehen sollte, geschah etwas, das alle ziemlich erschreckte.
Die Person schien sich zu wandeln, bäumte sich auf, mein Ausbilder erzählte, es schien ihm, als bewegten sich die Knochen eigenständig unter der Haut des Klienten. Was da verzerrt und verdreht in den Sessel zurück sackte, das war jemand anderes, nicht der Patient. Diese andere Person öffnete den Mund und wie aus einer Kreissäge heraus kratzte eine bösartige Stimme: "Get the fuck out of here!"

So etwas ist zum Beispiel typisch für ein solches Krankheitsbild. Schüchterne zurückhaltende Personen werfen sich dann in Pose, schreien obszöne Worte oder wenden sich mit Vehemenz gegen das, für Ihnen bisher wichtig, wertvoll oder heilig war. Es ist, als ob eine lang unterdrückte und im Dunkel vorhandene Seite ihrer Persönlichkeit wie ein eigenständiger Charakter die Bühne betritt.

Wenn dann wie bei Anneliese Michel ein besonders konservatives religiöses und einengende Umfeld das bisherige Leben bestimmt, so ist es naheliegend, dass genau diese Dinge, die allen heilig sind, erniedrigt werden.

Solche Patienten sind extrem suggestibel. 

Sie erahnen nahezu perfekt, was ihr Gegenüber indirekt erwartet und hören will und verhalten sich entsprechend. Dieser Bewusstseinszustand ermöglicht es ihnen, aus winzigkleinen Verhaltensweisen Rückschlüsse zu ziehen. Viele religiöse Menschen haben dieses intuitive Wissen dann fehlinterpretiert als Offenbarung eines Wissens, das eben nur von höheren Mächten den Betroffenen eingegeben werden konnte.

In Wirklichkeit ist das alles nichts Übernatürliches. 

Solche Phänomene bekommt man mit LSD genau so hin (das ist keine Aufforderung!), deshalb heißen solche Substanzen auch bewusstseinserweiternde Drogen. Personen unter LSD brauchen zum Beispiel viel weniger Infos, um Schriftzeichen lesen zu können als unter normalen Umständen.

Aber auch ohne Drogen können wir unsere Wahrnehmung so schulen, dass wir Wissen über unser Gegenüber erlangen können, wo andere gar nichts sehen. Cold Reading heißt die psychologische Technik und sie grenzt für Uneingeweihte oft an Magie. Mentalisten benutzen sie des öfteren in ihren Shows.

Was niemand vergessen sollte

Religion schafft mit ihren Ritualen - und besonders wenn sie mit Besessenheit umgeht - höchste emotional aufgeladene Situationen oder verstärkt die eh bereits aufgeheizte Stimmung. Und das noch bei Patienten mit 200prozentigen Suggestibilität! Da greifen dann die Dinge wie Zahnräder ineinander.

So erklärt sich auch der Eindruck, der Patient spräche plötzlich in einer ihm unbekannten Sprache.

  • Erstens erwartet der Religiöse, dass der Patient genau das tut (es ist offiziell ein Kriterium der Besessenheit in christlichen Kirchen), also tut das der Suggestible auch. 
  • Zweitens gibt es in der Situation immer jemand, der aus den Lauten eine Sprache heraushört oder eine Sprache zu verstehen glaubt. Was würde passieren, wenn dagegen alle andere ihm widersprächen und darauf beharren, es bliebe nur Gestammel?


Die moderne Sprachpädagogik nutzt die hohe Suggestibilität. Grundschulkinder, gerade die Jüngsten, verhalten sich den Anweisungen in einer Fremdsprache korrekt, obwohl sie die geäußerten Sätze gar nicht verstehen können. Sie wissen auch die passenden Antworten, ohne dass die Kinder die Sprache übersetzen können. Auch das ist ein natürliches Phänomen bei hoher Suggestibilität. Hypnotherapeuten wissen das.

Die Macht unseres Bewusstseins ist größer als man meint

Ein Zeichen, dass die Phänomene nicht durch übernatürliche Mächte, sondern durch dissotiative Bewusstseinszustände mit ihrer Suggestibilität verursacht werden, ist auch die Tatsache, dass die Betroffenen gut auf Suggestionen reagieren.

Es reicht oft, eine kurze Anweisung zu geben, zum Beispiel still zu sein oder ein bestimmtes Verhalten zu verändern ... und es passiert. Der Befehl beim Exorzismus, dass der Dämon den Kranken verlassen soll, ist so eine Suggestion. Streng Religiöse interpretieren das häufig um als Zeichen, dass ihre Gottheit, ihr Glaube sich eben als mächtiger erweist als ein Dämon. Sie legen sich damit eine Bestätigung zurecht, die natürlich wieder verstärkend in die Situation einfließt. Der Suggestible erkennt das ... und verhält sich entsprechend.

Vieles, dem eine religiöse Dimension zugesprochen wird, ist nur Arbeit mit Bewusstseinszuständen, wie es eben die Hypnotherapie auch tut. Geschichtlich dokumentiert ist das im Fall des Jesuitenpaters Johann Hoseph Gassner (1729-1779) und seinen Exorzismusmethoden. In Wirklichkeit waren es hypnotherapeutische Suggestionen.

Die Crux in vielen Religionssystemen

Ich habe den Eindruck, dass viele Religionssysteme meist weniger auf innere Überzeugung gesetzt haben, als vielmehr auf äußerliche Begebenheiten, die dann beweisen sollen, dass die eigene Religion richtig sei. Statt einer persönlichen Beziehung zu ihrem Gott, greifen sie eben zu Wunder oder übersinnliche Erklärungen von schwierig zu verstehenden Phänomenen. Damit nähern sie sich aber sehr dem Hokuspokus an. Erklärt man es anders, sind sie oft schnell beleidigt.

Es geht um Menschenleben

Ich bin deshalb bei diesem Thema etwas streng, weil bei den Dämonenaustreibungen weltweit Menschen ums Leben kommen - nicht trotz, sondern genau wegen dem Exorzismus.
  • 1997 versuchte eine Mutter ihrem Kind böse Geister aus dem Hals zu ziehen und hat es dadurch erstickt. 
  • 2004 nahm eine Mutter in Israel im Rahmen eines Exorzismus soviel Salz zu sich, dass sie daran starb. 
  • In Rumänien wurde 2005 eine Nonne von einem Priester und vier Mitschwestern mehrere Tage an ein Kreuz gefesselt, weil sie angeblich vom Teufel besessen war und das Messelesen ihr den Beelzebub nicht austreiben konnte. Der Abt des Klosters nannte die Kreuzigung "genau das Richtige". Unnötig zu erwähnen, dass sie nicht überlebte. Ok, der Priester wurde ins Gefängnis gesteckt, aber das hilft tatsächlich keinen mehr.
  • Vergleichsweise "harmlos" traf es dagegen ein 14-jähriges Maori-Mädchen in Neuseeland. Die Verwandten hatten ihm während eines Exorzismus die Augen auskratzen wollen, um den Teufel zu vertreiben, berichtete Spiegel Online berichtete 2007.

Besessenheit ist ein soziales Phänomen, kein individuelles. 

Bei dem Stamm der Duruma in Kenia werden zum Beispiel nicht die besessenen Kinder exorziert, sondern deren Mütter. Danach bessert sich die Situation der Kinder. Ein klares Zeichen für die Sichtweise der systemischen Therapie:

Symptome sind nicht ausschließlich ein individuelles Geschehen, sondern haben etwas mit den Beziehungen zu tun, die im sozialen Umfeld des Betroffenen gelebt werden.


Damit den Menschen geholfen werden kann, ist zu fragen, welche Art von tatsächlich gelebter Beziehung zwischen den Menschen existiert. Familie, Freunde, Verwandte, Dorfgemeinschaft ... jeder trägt dazu bei und ist Teil des Geschehens.

Zugegeben: Deutet man die Phänomene dagegen als teuflische Besessenheit, so hat man es einfacher. Denn es bleibt eine Sache zwischen Dämon und Patient. Alle anderen müssen sich nicht in Frage stellen und sind aus dem Schneider.


Der Fall Anneliese Michel führte zum Umdenken. 

 Inzwischen gibt es zwischen den Systemen Medizin und Religion etwas mehr Kooperation als vorher. So ist zum Beispiel auf religiöser Seite eine medizinische Abklärung bei "Besessenen" notwendig, bevor irgend ein Exorzismus vorgenommen wird, im medizinischen Lager gibt es "Besessenheit" als psychische Störung. Es gab also durchaus Fortschritt. Was bleibt ist die Tatsache, dass ein und das selbe Phänomen je nach Blickwinkel unterschiedlich eingeordnet wird und entsprechend verschieden sind die Therapiewege.

Der Ansatz der systemischen Therapie lautet: Die Art und Weise, wie wir ein Problem beschreiben, stellt die Weichen, welche Lösungen uns einfallen. Der Trick also ist, immer Alternativen zuzulassen. Die beste Möglichkeit, eine gute Lösung zu verhindern, ist, sich im Besitz der Wahrheit zu wähnen. 
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2 Kommentare:

  1. Anonym2.12.13

    Vielen Dank für diesen aufklärenden Artikel! An ihren Beispielen sieht man, dass Besessenheit und Exorzismus immer noch aktuelle Themen sind und nicht nur im Mittelalter relevant waren. Als Tochter einer religiös wahnhaften Mutter bin auch ich einem Exorzisten begegnet. Er hat sich zum Glück nur mit mir unterhalten. Das hat mir schon gereicht. Filme wie Requiem wühlen mich sehr auf. Katholische Horrorfilme darf ich mir gar nicht ansehen, ziehen mich aber auch magisch an. Obwohl ich mittlerweile weiß, dass es wissenschaftliche Erklärungen für solche Phänomene gibt, bleiben immer noch Zweifel in meinem Hinterkopf: Was, wenn das doch stimmt? Das sind Überbleibsel meiner traumatischen Kindheit. Deshalb bin ich für solche realistischen und bodenständigen Artikel immer sehr dankbar.

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    1. Vielen Dank, es freut mich, wenn die fachlichen posts als hilfreich empfunden werden. Die "Überbleibsel" "was, wenn doch …?" verstehe ich gut. Die wissenschaftliche Erkenntnisse sind leider nicht so sehr verbreitet und sitzen nicht so tief wie die alten religiösen Mythen. Manchmal hilft ein pragmatischer Umgang: Angenommen, die Dinge gibt es und es gibt dazu einen guten Gott, dann ist es überflüssig sich zu sorgen, denn ein guter Gott und ich werden das garantiert zu einem guten Ende kriegen.
      Aber angenommen, es gibt keinen guten Gott, sondern nur die Bösen, dann bin ich, egal was ich tue, in Schwierigkeiten. Also wozu noch Angst haben, wenn eh alles den Bach runtergeht und es keinen Ausweg gäbe. Oder drittens:
      Angenommen es gibt gar nichts, dann wäre die Sorge doch einfach Zeitverschwendung.

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